Du gehörst zu Gott

Vor einhundertfünfzig Jahren lebte ein bestimmter spiritueller Meister in Indien, der zu Beginn eines jeden Jahres einen Beschluss darüber fasste, was er mit seinen Schülern tun würde. Auf diese Weise versuchte der Meister jedes Jahr mit einem neuen Vorsatz den Fortschritt seiner Schüler zu beschleunigen. Diesem Vorsatz blieb er das ganze Jahr über treu. An einem Neujahrstag kündigte der Meister an, dass das kommende Jahr das Jahr des Über- sich-selbst-Hinauswachsens sei. Er hielt eine sehr inspirierende Rede darüber, wie man Hindernisse überwinden kann:

„Das neue Jahr bedeutet neue Hoffnung, neue Entschlossenheit, neue Verwirklichung und eine neue Manifestation. Wir können jeden Tag neue Hoffnung, neue Entschlossenheit, neue Verwirklichung und eine neue Manifestation haben, doch leider geschieht dies normalerweise nicht. Deshalb sollten wir zumindest einmal im Jahr einen inneren Ansporn erhalten und dadurch neue Errungenschaften und eine neue Wirklichkeit zum Vorschein bringen. Nachdem dies heute der Fall ist, möchte ich sagen, dass wir jetzt eine goldene Gelegenheit erhalten, unsere Begrenzungen nicht nur zu überwinden, sondern sie auch zu verwandeln. Während wir streben, gehen wir schließlich über unsere Errungenschaften hinaus. Wenn wir über das Erreichte hinausgehen, gehen wir gleichzeitig auch über unsere Begrenzungen hinaus. In jeder Sekunde können wir etwas erreichen und darüber hinausgehen, und indem wir über uns hinauswachsen, können auch unsere Begrenzungen leicht verwandelt werden. Auf diese Weise lernen wir allmählich mehr und mehr über unsere göttliche Wirklichkeit.“

Nach dieser Rede bat der Meister seine Schüler darum, einzeln zu ihm hinaufzukommen, um seinen spirituellen Segen zu empfangen. Nachdem der Meister sie gesegnet hatte, fragte ein enger Schüler des Meisters: „Meister, kannst du einem jeden Einzelnen von uns sagen, welche Begrenzungen er persönlich überwinden sollte?“

Der Meister sagte: „Meine spirituellen Kinder, wir haben lediglich eine Begrenzung und diese Begrenzung besteht in dem Gefühl, dass Gott jemand anderem gehört und nicht uns. Wir haben gelernt: ‚Gott gehört ihm; er hat eine Vorliebe für ihn und nicht für mich.’ Das ist unsere einzige Begrenzung. Wenn wir diese Haltung einnehmen, dann glauben wir, dass wir selbst die nutzloseste Begrenzung sind. Aber nun wollen wir versuchen zu fühlen, dass Gott anderen gehört und dass Er uns ebenso gehört. Jeder Einzelne muss den Glauben haben, dass er schließ­lich die fortwährende Anwesenheit Gottes fühlen wird. Mit diesem Gefühl können wir all unsere Begrenzungen überwinden.“

Plötzlich stand ein junger Mann auf. „Meister, was kann ich tun? Ich bin seit zehn Jahren dein Schüler, aber ich fühle mich noch immer voller Begrenzungen.“

„Zunächst“, sagte der Meister, „ist es falsch anzunehmen, dass du ein unwürdiger Schüler oder dass du mein schlechtester Schüler bist. Diese Gefühle sind nicht gut. Es gibt zwei Wege um uns selbst zu zerstören. Der eine Weg besteht darin zu glauben, dass wir groß, sehr groß, bei weitem die Besten sind; alle sind uns unterlegen. Dies ist eine Eigenschaft des Egos: Überheblichkeit. Der andere Weg uns zu ruinieren besteht darin, anzunehmen, dass wir hoffnungslos sind, dass wir nutzlos sind; alle sind uns weit überlegen. Indem wir fühlen, dass wir zu nichts taugen, erhalten wir eine Art subtiler Freude. Indem wir fühlen, dass uns alle zu Füßen liegen, dass wir alle übertreffen, erhalten wir ebenfalls eine Art Freude. Auf diese zwei Arten arbeitet das Ego. Auf dem einen Weg nähren wir unsere Überheblichkeit, und auf dem anderen Weg lassen wir unseren Traum und unsere Wirklichkeit verhungern. Beide Wege sind schlecht.“

„Und was sollten wir dann fühlen, Meister?“ fragte der junge Mann.

„Der positive Ansatz ist: ‚Ich bin Gottes Sohn. Es liegt an mir, Ihm auf Seine Weise zu gefallen, und es liegt an Ihm, seine Wirklichkeit in mir und durch mich zu manifestieren.’ Wenn du diese Haltung einnimmst, wirst du niemals ein Gefühl der Unterlegenheit haben, und du wirst niemals einen Gedanken daran verschwenden, dass du mein schlech­­tester Schüler bist. Wer ist der Beste? Wer ist der Schlechteste? Das weiß Gott allein. Aber indem du denkst, dass du bei weitem der Beste oder der Schlechteste bist, gewinnst du gar nichts. Wenn du dein Ego vergrößerst, tust du etwas Falsches und wenn du deine eigene Wirklichkeit absichtlich klein machst, tust du ebenfalls etwas Falsches.“

„O Meister“, sagte der junge Mann, „du hast Hunderte von Schülern; es ist nicht so einfach zu fühlen, dass ich ein auserwählter Schüler von dir bin.“

Der Meister sagte: „Fühle bitte von nun an, dass du Gottes Sohn bist und dass du unter Millionen und Abermillionen von Menschen auf Erden erweckt wurdest. Du folgst unserem Weg. Sobald jemand einen spirituellen Weg geht, ist diese Person höchst auserwählt. Hier ist das Gefühl der Unwürdigkeit fehl am Platz. Ihr alle folgt unserem Weg. Ihr seid für unseren Weg auserwählte Schüler. Und für euch ist unser Weg der Weg, der euch zu Gott bringen wird.“

Sri Chinmoy, Ein Universum von Heiligen, The Golden Shore Verlagsges.mbH, Nürnberg, 2005
Übersetzungen dieser Seite: Slovak
Diese Seite kann zitiert werden unter Verwendung des Zitierschlüssels gs 5