Missbrauch okkulter Kräfte

Im Falle eines anderen spirituellen Meisters begannen er und sein jüngerer Bruder fast zur selben Zeit mit Yoga. Doch als der ältere Bruder eine Shakti annahm, die ihm bei seiner spirituellen Arbeit helfen sollte, verließ ihn der jüngere Bruder und gründete einen eigenen Ashram. Er besaß auch ein wenig okkulte Kraft, doch als er begann, sie zu missbrauchen, nahm sie ihm sein älterer Bruder weg. Nun schrieb der jüngere Bruder flehentliche Briefe an seinen älteren Bruder und klagte: „Ich weiß, dass du unendlich viel mehr okkulte Kraft besitzt als ich. Warum hast du mir dann das bisschen okkulte Kraft, das ich habe, weggenommen?“ Doch der ältere Bruder antwortete: „Ich habe es zu deinem eigenen spirituellen Wohl getan. Auch wenn du mich verlassen hast, habe ich immer noch grenzenlose Anteilnahme für dein spirituelles Leben. Ich will, dass du das Höchste verwirklichst. Ich möchte nicht, dass du deine Zeit damit verschwendest, mit deiner okkulten Kraft anzugeben und dadurch deine ganze Spiritualität und all deine göttlichen Möglichkeiten zu verlieren.“

Lassen Sie mich eine Geschichte über den Missbrauch okkulter Kräfte erzählen. Vor etwa hundertfünfzig Jahren lebte ein spiritueller Meister namens Matsyendranath. Sein Lieblingsschüler hieß Gorakshanath. Als Matsyendranath erkannte, dass Gorakshanath ebenfalls eine spirituelle Größe werden würde, sagte er zu ihm: „Schau, zwei Löwen können nicht in derselben Höhle leben. Wir sollten ab jetzt nicht mehr zusammenbleiben. Du solltest an einen anderen Ort ziehen. Du hast die Fähigkeit dazu, du solltest nun die Welt führen, wie ich sie führe.“

Gorakshanath war darüber sehr unglücklich, doch er musste dem Befehl seines Meisters gehorchen. So verließ er Matsyendranath und blieb sechs Jahre fort. Nach Ablauf der sechs Jahre kehrte er zu dem Ort zurück, an dem er sich von seinem Meister getrennt hatte. Als er dort ankam, fragte er seine spirituellen Brüder und die Leute in der Nachbarschaft, ob sie wüssten, wo sich sein Meister aufhielt. Sie antworteten alle: „Wir können dir nicht verraten, wo dein Meister ist.“

Gorakshanath bat sie inständig und sagte, dass er seinen Meister sechs Jahre lang nicht gesehen hätte und dass er Matsyendranaths Lieblingsschüler sei, doch alle erwiderten: „Nein! Du bist nicht sein Lieblingsschüler. Du machst dich nur wichtig. Und wenn du tatsächlich sein Lieblingsschüler bist, dann solltest du auf seinen Befehl hören. Er sagte uns, dass niemand erfahren dürfe, wo er sich aufhält.“ Und sie weigerten sich, Gorakshanath zu verraten, wo sein Meister war.

Schließlich wurde Gorakshanath wütend. Er sagte: „Jetzt werde ich euch verfluchen. Zwölf Jahre lang werde ihr keinen Regen erhalten. Das bedeutet keine Ernten, keine Nahrung, kein Trinkwasser. Wenn ihr hier bleibt, werdet ihr alle verhungern. Nur unter der Voraussetzung, dass mein Meister hierher zurückkommt, wird dieser Fluch vor Ablauf der zwölf Jahre aufgehoben werden.“

Die Dürre setzte sofort ein. Als die Situation ernst wurde, kam der König des betreffenden Gebietes zu Gorak­shanath und bat ihn eindringlich, den Fluch aufzuheben, doch Gorakshanath weigerte sich. Die Dürre hielt weitere zweieinhalb Jahre an. Als die Nachricht von Gorakshanaths Fluch schließlich Matsyendranath erreichte, kehrte er sofort zurück. Da begann es wieder zu regnen. Matsyendranath trat vor Gorakshanath und sagte: „Ich bin so glücklich, dich wieder zu sehen!“

Gorakshanath erkannte augenblicklich seine Dummheit. „Vergib mir, Meister,“ bat er. „Ich schäme mich für das, was ich diesen Menschen angetan habe.“

Doch Matsyendranath sagte zu seinem Lieblingsschüler: „Du hast nichts Falsches getan. Diese Leute waren alle verdorben, sie verdienten diese Strafe. Sie wird ihnen helfen, ein besseres Leben zu führen.“

„Aber das wusste ich nicht“, wandte Gorakshanath ein. „Ich wollte sie nur bestrafen. Ich war zornig. Meine Handlung war schlecht, weil mein Motiv schlecht war.“

„Ich erfinde keine falsche Rechtfertigung für dein Handeln“, sagte Matsyendranath. „Deine Seele wusste, dass sie eine Strafe verdienten. Was du getan hast, war richtig.“

Wenn der Meister die Kraft seines Mitgefühls anwendet, benützt er sie, um seine Schüler zu beschützen und ihre Fehler zu korrigieren. Der Meister will letzten Endes von seinen Schülern Vollkommenheit. Mitgefühl ist das Mittel. Vollkommenheit ist das Ziel.

Derselbe Meister und derselbe Schüler hatten noch eine andere bedeutende Erfahrung. Gorakshanath war von ungeheurem Stolz erfüllt, weil er die Wahrheit verwirklicht und okkulte Kräfte erlangt hatte und deswegen wollt ihm Matsyendranath zeigen, dass der Gebrauch okkulter Kräfte sehr gefährlich sein kann. Hier ist die Geschichte von dieser Begebenheit.

Einst kam ein Yogi zu Gorakshanath und begann, ihn und seinen Meister Matsyendranath zu beleidigen. Gorak­shanath sagte zu ihm: „Wage es nicht, auf diese Art und Weise über meinen Meister zu sprechen! Ich besitze gewaltige okkulte Kräfte!“

Der Yogi forderte ihn heraus: „Zeige mir deine okkulte Kraft!“
Gorakshanath sagte: „Hier ist ein Messer. Wenn du mich damit an irgendeiner Stelle meines Körpers stichst wirst du mich nicht verletzen können. Das ist meine Kraft.“

Der Yogi begann, auf Gorakshanath einzustechen, doch er konnte ihm nicht einmal ein Haar krümmen. Darauf sagte der Yogi zu ihm: „Nun gut. Jedes Mal, wenn ich nach dir gestochen habe, gab es ein Geräusch. Obwohl du nicht verletzt wurdest, riefen meine Stiche ein Geräusch hervor. Doch wenn du mich mit demselben Messer stichst, wirst du mich nicht nur nicht verletzen können, sondern es wird dir auch nicht gelingen, irgendeinen Laut zu erzeugen.“

Gorakshanath begann, mit dem Messer auf den Yogi einzustechen und die Behauptung des Yogi erwies sich als wahr. Es war nicht das Geringste zu hören. Der Yogi sagte zu Gorakshanath: „Wenn man sich mit dem Unendlichen identifiziert, erzeugt ein Hieb kein Geräusch. Das zeigt, dass ich dir an okkulter Kraft überlegen bin.“ Zufrieden mit seinem Sieg ging der Yogi davon.

Matsyendranath war an einem anderen Ort, als dies passierte, doch Gorakshanath konzentrierte sich tief auf ihn, um mit ihm über diese Erfahrung zu sprechen. Seine innere Schau sagte ihm, dass Matsyendranath sich in einem Ashram in Mayapuri, der Stadt der Täuschungen, aufhielt. Zu seiner großen Überraschung sah er seinen Meister umgeben von vielen schönen Mädchen. Sie tanzten um ihn herum und er genoss das vitale, das emotionale Leben. Gorakshanath sagte zu sich selbst: „Wie ist das möglich? Vielleicht täuscht mich meine Vision.“ Erneut konzentrierte sich Gorakshanath und sah wieder dieselbe Szene. „Mein Meister ist gefallen!“ dachte er. „Er ist umgeben von so vielen schönen Mädchen, die singen und tanzen. Er genießt alle Arten von vitalem Leben. Ich muss ihn retten!“

Und Gorakshanath öffnete sein Herzzentrum und versetzte sich okkult in den Ashram in Mayapuri. Am Tor fragte er nach seinem Guru. Der Torhüter sagte: „Matsyendranath? Dein Guru? Er ist gefallen. Was ist er gewesen und was ist er jetzt! Ich kann gar nicht glauben, wie tief er gefallen ist.“

Gorakshanath wollte sofort hineingehen und seinen Guru retten, doch die Frauen wollten ihn nicht an Matsyendranath heranlassen. Gorakshanath musste seine okkulte Kraft gebrauchen, um selbst eine schöne Frau zu werden, um mitzusingen und zu tanzen. Als er sich Matsyendranath in Verkleidung einer Tänzerin näherte, konnte Matsyendranath seinen Schüler nicht erkennen. Nun musste Gorakshanath seine okkulte Kraft gebrauchen, um mit seinem Meister zu sprechen.

„Meister, was tust du hier?“ rief er. „Was führst du hier für ein Leben? Du bist eine gottverwirklichte Seele. Warum bist du hier und genießt das vitale Leben?“

Sofort rief Matsyendranath: „Oh, ich bin gefallen! Ich bin so tief gefallen! Rette mich!“

Gorakshanath benutzte seine okkulte Kraft und nahm Matsyendranath mit sich fort von Mayapuri. Als sie sechst oder sieben Meilen entfernt waren, kam Matsyendranath aus der Maya, der Täuschung, heraus und war frei. Schüler und Meister legten zweitausend Meilen zurück, bis sie Matsyen­dranaths Ashram in Nordindien erreichten. Dort sah Gorakshanath, dass Matsyendranath zwei spirituelle Körper besaß. Ein Körper war mit ihm auf okkulte Weise geflogen, während der andere sich unmittelbar vor ihm an ihrem Ziel befand. Kurz darauf trat der Meister, der mit ihm geflogen war, in den anderen Meister ein, der vor ihm stand. Und plötzlich sah Gorakshanath, dass viele der Schüler des Meisters ihn umringten. Er fragte einen von ihnen: „War unser Meister einige Jahre lang weg gewesen?“
„Nein,“ antwortete der Schüler. „Während der letzten Jahre war der Meister immer hier und wir waren alle mit ihm zusammen.“
„Wie ist das möglich?“ fragte Gorakshanath. „Meister, bitte erkläre mir diese Erfahrung, die ich gerade durchgemacht habe. Ich kann das Geheimnis nicht ergründen, was wirklich geschehen ist.“

Matsyendranath erwiderte: „Ich musste all das nur für dich tun. Du verfügtest über alle Arten von okkulten Kräften, doch dein Stolz war zu groß. Du warst sehr asketisch und hart in deinem spirituellen Leben. Du hast auf Frauen herabgesehen. Ich hatte dir mehrfach gesagt, dass du dein Leben nicht vervollkommnen und verwandeln kannst, wenn du auf Frauen herabschaust. Dir war nichts an der Befreiung der Frauen von der Unwissenheit gelegen. Du glaubtest, dass Frauen eine offene Tür zur Hölle seien und die Ursache aller Probleme im Leben der Männer, vor allem der vitalen Probleme. Doch das ist nicht wahr. Es sind die Unvollkommenheiten der Männer selbst, die diese Probleme schaffen. Männer haben Schwächen und wenn sie ihre Schwächen auf Frauen projizieren, haben sie das Gefühl, dass Frauen die Ursache all ihrer Probleme sind. Männer wie Frauen sind Geschöpfe Gottes und sie beide müssen die Regungen des niederen Vitalen überwinden. Von Anfang an hatte ich immer gesagt, dass man Frauen nicht meiden darf. Man muss ihnen helfen, sie aus dem Sumpf der Unwissenheit zu befreien.

Du bist mein bester Schüler. und ich gab dir alle Arten okkulter Kräfte. Von dem Yogi wurdest du nur wegen deines Stolzes besiegt. Jetzt, nachdem du gedemütigt wurdest, jetzt, da dein Stolz gebrochen wurde, möchte ich dir etwas sagen. Obwohl du mein Schüler bist und obwohl du gegen den Yogi verloren hast, wirst du in naher Zukunft sowohl ihn als auch mich übertreffen. Heute bist du mein Schüler, doch morgen schon werde vielleicht ich dein Schüler sein. Weil du heute deinen Stolz überwunden hast, weil du heute die Wahrheit auf göttliche Weise siehst, kann dein gewaltiges Potenzial nun zum Vorschein kommen. Du wirst uns mit Sicherheit übertreffen. Als du zu einer Frau wurdest, um dich mir zu nähern und um mir zu helfen, lerntest du, Frauen nicht zu meiden. Du erkanntest schließlich, dass Männer und Frauen gemeinsam auf das transzendentale Ziel zugehen müssen. Jetzt, da du diese Wahrheit gelernt hast, gibt es nichts mehr, was ich dich lehren kann. Alles was ich habe, habe ich dir gegeben und durch die Gnade des Höchsten Herrn hast du mich übertroffen.“ Darauf faltete Matsyendranath seine Hände und verbeugte sich vor seinem Schüler.

Sri Chinmoy, Kundalini - die Kraft der göttlichen Mutter, The Golden Shore Verlagsges. mbH, Nürnberg, 2018
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