Selbstentdeckung und Transformation

Es gibt zwei Welten: die äußere Welt und die innere Welt. Wenn die Kundalini fest schläft, lebt der Mensch in der äußeren Welt. Er möchte alles besitzen, was die äußere Welt ihm zu bieten hat und er glaubt, dass nur die Dinge der äußeren Welt ihn zufrieden stellen können.

Wenn die Kundalini erwacht ist, ist sich der Mensch der inneren Welt völlig bewusst. Er weiß, dass die äußere Welt seine inneren Bedürfnisse nicht befriedigen kann. Er hat das Potenzial der inneren Welt zum Vorschein gebracht und erkannt, dass er den Fähigkeiten der äußeren Welt weit überlegen ist. Er hat die verborgenen Kräfte, die okkulten Kräfte in sich selbst zum Vorschein gebracht. Entweder benutzt er nun diese Kräfte auf die richtige Weise oder er missbraucht sie. Wenn er die Kundalini-Kräfte auf göttliche Weise gebraucht, wird er zum wahren Stolz der Höchsten Mutter. Wenn er sie aber missbraucht, wird er zum schlimmsten Feind des verkörperten Bewusstseins des Menschen und seiner eigenen persönlichen Entwicklung.

Wir alle spielen gern und bei unserer göttlichen Mutter und unserem göttlichen Vater ist es nicht anders. Wenn Parvati, die göttliche Mutter und Shiva, der göttliche Vater, spielen wollen, möchten sie, dass ihr Kind mitspielt. Doch ihr Kind liegt in tiefem Schlaf und so warten sie eine Weile. Wenn sie schließlich das Gefühl haben, es sei höchste Zeit für das Kind aufzustehen, gibt ihm die Mutter von unten, vom Muladhara-Chakra her, liebevoll einen Schubs und der Vater zieht es von oben, vom Sahasrara-Chakra her, zärtlich hinauf. Da steht das Kind auf.

Wenn das Kind nun in einem guten, göttlichen Bewusstsein ist, sagt es: „Es tut mit so leid, dass Ihr so lange auf mich warten musstet. Bitte entschuldigt mich. Ich will mit Euch spielen. Kommt, lasst uns mit dem Spiel beginnen.“ Nun lehrt die Mutter das Kind auf die liebevollste Weise mit ihrer dynamischen Kraft, wie es das kosmische Spiel außerordentlich gut spielen kann. Auch der Vater lehrt das Kind auf ebenso liebevolle Art mit seinem inneren erleuchtenden Licht und seiner Weisheit. Schließlich machen sie ihr Kind zu einem einzigartigen, vollendeten Spieler. Wenn das Kind ein außergewöhnlich guter Spieler geworden ist, muss es gegen drei Gegenspieler zugleich kämpfen. Diese drei furchtbaren Gegner sind Dunkelheit, Unwissenheit und Tod. Zu seiner Überraschung fällt es ihm leicht, seine Feinde zu besiegen. Sein ist der immerwährende Sieg über diese gefallenen Feinde.

Wenn das Kind in einem schlechten, ungöttlichen Bewusstsein ist, wenn es von seinen Eltern geweckt wird, sagt es zu ihnen: „Lasst mich um Gottes Willen in Frieden. Ich brauche Schlaf, nichts als Schlaf. Etwas anderes will ich nicht. Ich will nicht spielen.“ Darauf sagen die Eltern traurig: „Schlaf weiter, mein Kind, schlaf weiter. Wir werden ohne dich spielen.“

Jeder kann Kundalini-Yoga praktizieren, wenn er es aufrichtig will. Und wenn er ihn nur studieren will, muss ich sagen, dass der Kundalini-Yoga es wert ist, mit der tiefsten Ehrfurcht studiert zu werden.

Die Hauptziele des Kundalini-Yoga bestehen darin, die dynamische Existenz in der statischen Existenz zu verwirklichen, die niederen Bewusstseinsebenen in die höheren Bewusst­seinsebenen zu überführen, die Knechtschaft des Endlichen in die Freiheit des Unendlichen zu verwandeln. Die dynamische Existenz ist Shakti und die statische Existenz ist Shiva. Wenn Shakti nicht in Shiva gegenwärtig ist, wird Shiva statisch bleiben. Shakti, die Mutter, ist die Kraft, doch es ist der Vater, der diese unendliche Kraft in sich trägt.

Wenn ein Sucher sich mit der Mutter-Kraft identifizieren will, muss er die Intensität seines inneren Strebens verstärken. Durch Intensität wird er eins mit der Shakti. Und um mit Shiva, dem Göttlichen Vater, völlig eins zu werden, braucht er meeresgleiche Weite.

Hier im Westen halten viele Menschen die Kräfte des Kundalini-Yoga für Aberglauben. Diese Menschen irren sich völlig. Die echten spirituellen Meister haben den Kundalini-Yoga geprüft und durch ihre eigenen Erfahrungen die unleugbare Authentizität dieser verborgenen okkulten Kräfte bestätigt gefunden.

Gesegnet ist derjenige, der Kundalini-Yoga als einen Teil seiner Selbstentdeckung praktiziert und nicht, um Macht der Hypnose, der schwarzen Magie oder anderer niederer Formen des Okkultismus zu erwerben, die in der vitalen Welt und von der vitalen Welt aus wirken. Ein echter Schüler des Kundalini-Yoga versteht, die Macht des Vitalen und die spirituelle Erkenntnis in vollkommener Harmonie mit dem sich entwickelnden Geist des Lebens miteinander zu vereinen. Ein echter Sucher betrachtet die verborgenen Mächte oder okkulten Kräfte niemals als sein Ziel. Ihm ist nur Gott wichtig. Er sehnt sich nur nach der liebenden Gegenwart Gottes in seinem Leben.

Die Kundalini-Kraft ist die dynamische Kraft in uns. Wenn dynamische Kraft und spirituelle Erkenntnis Hand in Hand gehen, dämmert die vollkommene Harmonie des universellen Bewusstseins und die bewusste Evolution der menschlichen Seele erreicht das transzendentale Selbst.

Es gibt zwei Möglichkeiten, den Pfad des Kundalini-Yoga zu betreten: durch den tantrischen Prozess und durch den vedantischen Prozess. Der tantrische Ansatz ist systematisch und ausgefeilt, aber gleichzeitig auch relativ gefährlich. Der vedantische Prozess ist einfach und mystisch, doch er ist sicher und in keiner Weise weniger überzeugend oder weniger erfüllend.

Die tantrische Methode ist gefährlich, weil sie sich zuerst mit dem niederen Vitalen und dem emotionalen Leben befasst. Dieser Ansatz ist dynamisch und mutig. Entweder man reinigt sich, indem man mutig die vitale Welt betritt und siegreich wieder aus ihr hervorkommt, oder man verliert sich völlig in der Unwissenheit der vitalen Welt, wenn man innerlich nicht stark genug ist, die vitalen Kräfte dieser Welt zu überwinden.

Der vedantische Weg ist sicher, weil der Sucher sich dort konzentriert und meditiert, um sein Bewusstsein zu heben, zu reinigen und zu erleuchten, bevor er versucht, sich mit den dunklen und unreinen niederen vitalen Kräften auseinander zu setzen, die ihn zu binden versuchen. Wenn der Sucher mit dem Licht der Erleuchtung in die niedere vitale Welt eintritt, sieht er zu seinem großen Erstaunen, dass das niedere Vitale erleuchtet, gereinigt und vergöttlicht ist.

Der tantrische Prozess verlangt vom Sucher ständiges und bewusstes Gewahrsein der inneren und aufwärts steigenden Bewegung vom Muladhara-Chakra zum Sahasrara-Chakra. Der vedantische Prozess verlangt vom Sucher bewusstes und ständiges Gewahrsein des sich ent­wickelnden und befreienden Bewusstseins.

Wenn jemand von Ihnen Kundalini-Yoga praktizieren möchte, rate ich diesem Sucher, der vedantischen Methode zu folgen, die ungefährlich und zuverlässig ist. Wenn Sie der vedantischen Methode folgen, werden Sie das Ziel mit Bestimmtheit sicher und gefahrlos erreichen.

Sri Chinmoy, Kundalini - die Kraft der göttlichen Mutter, The Golden Shore Verlagsges. mbH, Nürnberg, 2018
Übersetzungen dieser Seite: Russian , Italian , Slovak , Czech , Spanish
Diese Seite kann zitiert werden unter Verwendung des Zitierschlüssels kmp 5