Ein großer Pianist tritt kurzfristig auf

Es gab einmal einen großen Pianisten. Alle schätzten und bewunderten seine seelenergreifenden Auftritte.

Eines Tages trafen sich die Vorsitzenden einer bekannten kulturellen Gesellschaft, um die Feier anlässlich ihres fünfzig-jährigen Bestehens zu planen. Sie beschlossen diesen Pianisten einzuladen, der zu diesem Anlass ein Konzert geben sollte. Leider fiel der Entschluss dazu etwas spät. Da es nur noch ein Tag bis zum Jubiläum war, hatten sie Angst, ihn zu fragen. Denn wie sollte ein bekannter Pianist, wie er es war, ihre Einladung so kurzfristig annehmen. Sie fühlten sich unwohl bei dem Gedanken, ihn kurz zuvor noch einzuladen. Einer ihrer Freunde, der auch mit dem Pianisten befreundet war, stellte sich der Herausforderung. Er sagte: „Obwohl es schon so spät ist, werde ich es schaffen, dass er für uns spielt. Er ist ein lieber Freund von mir.“

Die Vorsitzenden der Gesellschaft erwiderten: „Wir wären dir äußerst dankbar, wenn du deinen Pianisten-Freund hierher bringen könntest. Wir fühlen uns alle unwohl dabei, ihn noch fünf vor zwölf hierher einzuladen.“

Der Freund sagte: „Macht euch keine Sorgen. Es wird mir gelingen, den Pianisten hierher zu bringen.“

Dieser Freund ging zum Pianisten und fragte: „Könntest du mir einen großen Gefallen tun?“

Der Pianist entgegnete: „Du bist mein wahrer Freund, und du brauchst einen Gefallen von mir. Gibt es etwas, was ich nicht für dich tun würde? Wenn es in meiner Macht steht, werde ich es bestimmt tun.“

Der Freund sagte: „Ich weiß nicht, ob es in deiner Macht steht oder nicht, aber ich bin ein wenig verlegen und ziemlich unschlüssig, ob ich dich nach diesem besonderen Gefallen fragen darf.“

Der Pianist erwiderte: „Bitte frage mich. Ich werde dir mit Sicherheit diesen Gefallen tun.“

Er sagte: „Meine Freunde von der kulturellen Gesellschaft und ich wären dir äußerst dankbar, wenn du morgen dort eine Vorstellung geben könntest. Ich habe mich der Herausforderung gestellt, dich äußerst kurzfristig zu unserer Veranstaltung zu bringen, und nun bin ich mir nicht sicher, ob ich erfolgreich sein werde oder nicht.“

Der Pianist musste herzlich lachen. „Du bist mein lieber Freund. Werde ich dir denn diesen Gefallen abschlagen? Wenn es um Freunde geht, gibt es kein ‚kurzfristig‘. Ich werde jederzeit spielen. Für andere werde ich nicht so kurzfristig auftreten. Doch was dich anbetrifft, mein Freund, kannst du mich bitten, irgendwo hinzugehen, jederzeit. Ich habe die letzten fünfunddreißig Jahre täglich neun Stunden geübt und bin daher jederzeit bereit.“

Der Freund entgegnete: „Wie sehr ich mir wünschte, ich hätte deine Entschlossenheit!“

Der Pianist lachte und lachte. Er sagte: „Entschlossenheit ist nicht mein Monopol. Gott hat jedem die gleiche Entschlossenheit gegeben. Nun, was mich betrifft, ich übe mich in Entschlossenheit. Du übst dich nicht in Entschlossenheit. Wenn du jeden Tag übst, wird Entschlossenheit natürlich. Weil ich meine Entschlossenheit über so viele Jahre genutzt habe, wurde sie zu meiner zweiten Natur. Wenn wir regelmäßig von unserer Entschlossenheit Gebrauch machen, wird sie für uns völlig natürlich und spontan.

Bitte sage deiner Gesellschaft, dass ich ihre Einladung für den morgigen Auftritt ganz zuverlässig annehme. Ich schätze meine Freunde mehr als alles andere in meinem Leben.“

Sri Chinmoy, Der Verstandes-Dschungel und der Herzens-Garten des Lebens, The Golden Shore Verlagsges.mbH, Nürnberg, 2019
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