Nicht um zu urteilen, sondern nur um zu lieben2
Einmal wurde ein bekannter spiritueller Meister vom Bürgermeister einer bestimmten Stadt eingeladen, um dort einen Vortrag zu halten. Der spirituelle Meister war noch nie zuvor in dieser Stadt gewesen. Er nahm die Einladung sehr gerne an und beschloss, allein dorthin zu reisen. Obwohl er im ganzen Land viele, viele Schüler hatte, hatte er keine in dieser Stadt.Der Bürgermeister traf alle Vorkehrungen für den Besuch des Meisters. Er reservierte einen großen Saal, in dem der Meister seinen Vortrag halten konnte, und ließ überall Plakate aufhängen, dass alle Interessierten zur Teilnahme eingeladen sind. Alle waren sehr glücklich und stolz, dass ein so berühmter spiritueller Meister in ihre Stadt kam.
Ein spiritueller Sucher namens Jyotish fragte seinen Freund: „Hast du die Nachricht gehört? Ein sehr großer Meister kommt in die Stadt. Er wird meditieren und einen Vortrag halten. Wer weiß, vielleicht zeigt er uns sogar etwas von seiner okkulten Kraft!“
Sein Freund Madhu antwortete: „Fantastisch! Das wusste ich nicht. Das sollten wir nicht verpassen.“
So wie in diesem Beispiel wurde der bevorstehende Besuch des Meisters zum Thema der Stadt. Alle freuten sich sehr auf die Ankunft des berühmten Meisters. Schließlich kam der Tag des Vortrags. Die Menschen aus der Stadt und selbst viele Menschen aus den umliegenden Dörfern waren gekommen, um dem Meister zu lauschen und mit ihm zu meditieren.
Am frühen Morgen rief Madhu seinen Freund aufgeregt an. „Jyotish, wir müssen mindestens vier Stunden früher kommen, um einen guten Platz zu bekommen!”
„Ja, natürlich”, antwortete Jyotish.
Die Freunde vereinbarten, um elf Uhr zum Rathaus zu gehen, wo der Meister seine Rede halten würde. Sie fand im größten Versammlungssaal der ganzen Stadt statt und sollte um vier Uhr nachmittags beginnen. Der Bürgermeister selbst würde nicht anwesend sein, aber er hatte ausgezeichnete Arbeit geleistet, und alle Bewohner seiner Stadt über das Kommen des Meisters informiert.
Eine unglaubliche Welle spiritueller Begeisterung hatte sich in der ganzen Stadt ausgebreitet. Alle Menschen waren von der freudigen Erwartung erfüllt, in der Gegenwart einer großen spirituellen Gestalt zu sein. Die Männer trugen ihre reinsten weißen Dhotis und Kurtas, und die Frauen trugen reinweiße Saris.
Bereits Stunden vor dem Vortrag des Meisters strömten die Menschen in großer Zahl durch die Hauptstraße der Stadt. In der Nähe des Bürgermeisterhauses und nur wenige Blocks vom Rathaus entfernt, sahen alle Vorbeigehenden einen alten, ungekämmten Mann am Straßenrand schlafen. Sein graues Haar war lang und zerzaust, der Bart war völlig ungepflegt. Seine Kleidung war das Einfachste vom Einfachen. Niemand hatte diesen alten Mann je zuvor gesehen.
Da die Menschen an einer spirituellen Veranstaltung teilnehmen wollten und sich in einem guten Bewusstsein befanden, brachten die meisten von ihnen dem alten Mann Mitgefühl entgegen. Einige gutherzige Menschen schenkten ihm Bananen und anderes Essen.
„Hier, nimm das, alter Mann“, sagte eine nette Mutter. Sie war mit ihren vier Kindern auf dem Weg, um den Meister zu hören. Sie stellte eine kleine Schüssel Reis direkt vor den alten Mann. Dann gingen sie und ihre Kinder weiter ihres Wegs.
Einige wenige Leute waren weit weniger freundlich, und einige von ihnen beschimpften den Mann sogar. „Schrecklich! Schrecklich! Bist du überhaupt ein Mensch? Verschwinde von hier“, schrien sie den armen, zerzausten Mann an. „Wie kannst du es wagen, hier zu sein, derart gekleidet an einem so heiligen Tag wie heute! Geh! Geh weg!“
Aber der alte Mann schien nur zu schlafen und zu schlafen.
Schließlich kam die Zeit für den Vortrag des Meisters. Als der Meister die Halle betrat, ging ein fassungsloses Raunen durch das Publikum. „Was! Das ist der Meister? Das ist der Meister? Das muss ein Fehler sein!“, wetterten sie. Sie waren alle schockiert, denn der Meister war niemand Geringeres als derselbe alte Bettler, an dem sie alle vorbeigegangen waren, während er auf der Straße lag und schlief.
Der Meister verbeugte sich einfach und meditierte mehrere Minuten lang in völliger Stille. Dann sprach er langsam und mit ungeheurer Intensität. „Ich bin euch allen sehr dankbar, dass ihr heute hierher gekommen seid, um an meinem Vortrag teilzunehmen. Ich bin nicht hier, um über euch zu urteilen. Ich bin nur hierher gekommen, um euch zu lieben.“
Dann fuhr der Meister fort: „Alle von euch, die heute Nachmittag an mir vorbeigekommen seid, haben mich gerichtet. Ihr habt zu euch selbst gesagt: „Dieser Mann ist so arm! Er ist so schmutzig! Warum schläft dieser alte Mann an einem so wichtigen Tag auf der Straße? Wie kann er es wagen? Einige von euch waren sehr freundlich zu mir und boten mir sogar ihr Essen an. Andere waren weniger freundlich. Sie machten sich über mich lustig oder zeigten ihre Wut. Ich möchte euch sagen, dass das spirituelle Leben nicht dazu da ist zu richten, sondern nur um zu lieben. Wenn ihr alle dieser einen göttlichen Lehre folgen könnt, dann werdet ihr gewaltigen Fortschritt in eurem spirituellen Leben machen. Ihr werdet sofort bemerken, welchen Unterschied es in eurem eigenen inneren Leben des Strebens und in eurem äußeren Leben der Widmung machen wird.“
Ohne ein weiteres Wort zu sagen, segnete der Meister in Stille jede einzelne in der Halle anwesende Person. Dann verbeugte er sich noch einmal und schritt langsam aus der Halle.
Als der Meister nach Hause zurückkehrte, warteten seine spirituellen Kinder bereits sehr gespannt darauf zu hören, wie seine Reise verlaufen sei. Der Meister lächelte einfach und sagte: „Ich hielt eine Rede. Es ging sehr gut. Ich sagte, dass ich nicht in die Welt gekommen bin, um über jemanden zu urteilen. Ich bin nur in die Welt gekommen, um alle und alles zu lieben.“
Alle Schüler waren tief bewegt. Sie verbeugten sich vor dem Meister und marschierten leise aus dem Raum.
POK 24. Sri Chinmoy narrated the following story on 12 December 2004 in Xiamen, China↩