Die Kraft der Güte[fn:: POK 4-20. Sri Chinmoy erzählte die folgenden Geschichten

am 20. und 23. Januar 2003 in Cairns, Australien.]

Der Güte-Aspekt des Lebens bringt uns unserem Ziel sehr, sehr viel näher. Wie kann Freundlichkeit die menschliche Natur zum Besten verändern!

Es gab eine Schule mit etlichen Schülern. Die meisten davon waren hervorragende Schüler. Es gab nur einen bedauerlichen Jungen, der leider überhaupt kein guter Schüler war. Gleichzeitig hatte er eine sehr schlechte Angewohnheit: er pflegte zu stehlen. Nicht selten verpasste dieser Junge den Unterricht, um Geld und andere Wertsachen der Leute zu stehlen.

Einige der Jungen lebten in einem Wohnheim und von Zeit zu Zeit stellten sie fest, dass ihnen Geld fehlte. Das ging lange so weiter und die Schüler waren darüber äußerst frustriert. Sie hatten keine Ahnung, wer der eigentliche Dieb war.

Einem der intelligentesten Studenten kam eine brillante Idee in den Sinn. An einem bestimmten Tag meldete sich dieser Junge krank und kam nicht zum Unterricht. Er versteckte sich im Schlafsaal. Wie es das Schicksal wollte, kam der Student, der die Angewohnheit hatte zu stehlen, in den Raum, um etwas zu stehlen. Dabei wurde er auf frischer Tat ertappt. Der gute Schüler informierte sofort die Schulleitung. Die Nachricht, dass der Dieb erwischt wurde, verbreitete sich sehr schnell in der Schule. Alle Schüler bekamen mit, wer der Täter war, und sie begannen, ihn unerbittlich zu beschimpfen.

Die Lehrer wollten die Angelegenheit der Polizei übergeben. Sie sagten: „Dieser Junge sollte bestraft werden! Er sollte ins Gefängnis kommen!” Der Schulleiter teilte ihnen entschlossen mit: „Nein, das werde ich nicht zulassen. Das wird Schande über meine Schule bringen. Außerdem möchte ich diesem Jungen und auch den anderen Schülern wirklich helfen.”

Der Direktor rief alle Schüler und Lehrer zusammen, einschließlich des Jungen, der das Geld gestohlen hatte. Er sagte zu den Studenten: „Ihr müsst ehrlich zu mir sein. Ich möchte, dass jeder von euch, dem Geld abhanden gekommen ist, mir sagt, wie viel ihm abhanden gekommen ist.“

Ein Schüler sagte: “Ich habe zehn Dollar verloren.” Andere sagten zwanzig, dreißig, vierzig und so weiter. Der Gesamtbetrag belief sich auf 300 Dollar. Gleich an Ort und Stelle nahm der Schulleiter 300 Dollar aus seiner eigenen Brieftasche und gab jedem Schüler, dem Geld abhanden gekommen war, genau den Betrag zurück, der ihm gestohlen worden war.

Der Junge, der das ganze Geld gestohlen hatte, wurde schwer gedemütigt. Dann sagte der Schulleiter zu ihm: „Du kannst in dein Klassenzimmer zurückkehren. Du solltest all deine Seminare zu Ende bringen.“

Der Junge gehorchte dem Schulleiter und besuchte wieder den Unterricht. Aber die anderen Schüler schauten weiter auf diesen Jungen herab. Sie tuschelten hinter seinem Rücken über ihn und machten auch direkt vor ihm Späße über ihn. Als der Schulleiter hörte, was los war, wurde er extrem traurig. Er sagte zu den Schülern: „Die Art und Weise, wie ihr euch benehmt, ist nicht gut. Wir müssen die Menschen mit unserer Güte besiegen. Ihr seid alle meine Schüler. Ich werde der stolzeste Mensch sein, wenn es euch gelingt, Güte, Mitgefühl und Vergebung zu zeigen.“

Der Schulleiter war ein wirklich ausgezeichneter Mensch. Leider hörten weder die Schüler noch die Lehrer auf ihn. Es gelang ihnen einfach nicht, diesen bestimmten Schüler freundlich oder positiv zu betrachten. Nachdem der Junge beim Stehlen erwischt wurde, hörte er sofort mit damit auf. Er war entschlossen, ein gutes Leben zu führen, aber er wurde immer wieder wegen seiner früheren Taten verspottet.

Wiederholt bat der Schulleiter seine Schüler und Lehrer eindringlich: „Ich bitte euch, seid bitte nett zu diesem Jungen. Er hat das Stehlen ganz aufgegeben. Wir alle haben Schwächen, die wir überwinden müssen. Bitte versucht, Güte, Mitgefühl und Vergebung in eurem Herzen zu finden.“

Langsam, aber sicher, wirkte die eindringliche Bitte des Schulleiters. Die Menschen begannen, den Jungen mit aufrichtiger Freundlichkeit und Anteilnahme zu behandeln.

Nach vier oder fünf Jahren schloss er sein Studium ab und nahm eine Arbeit auf. Er erhielt eine ausgezeichnete Stelle im Bauwesen. Gleich nachdem sein erstes Gehalt überwiesen wurde, bestand seine erste Tat darin, 300 Dollar in bar abzuheben und zu seiner alten Schule zu gehen. Der Schulleiter war noch da.

Mit gefalteten Händen bot der junge Mann dem Schulleiter das Geld an und sagte zu ihm: „Ich bin Ihnen ewig dankbar. Sie haben mir das Leben gerettet. Alle anderen wollten mich ins Gefängnis werfen, aber Sie haben es nicht zugelassen. Ich habe 300 Dollar gestohlen, die Sie selbst den Studenten gegeben haben, von denen ich das Geld gestohlen hatte. Jetzt gebe ich Ihnen die 300 Dollar zurück.“

Dem Schulleiter kamen Tränen der Freude und des Stolzes. Er umarmte den jungen Mann und sagte: „Mein Sohn, meine Güte wurde aufs höchste belohnt. Ich bin so stolz auf dich und so dankbar. In der Zukunft, mein Junge, stiehl nicht. Stiehl niemals.” Der junge Mann antwortete: „Ich habe ganz aufgehört zu stehlen. Nie wieder in meinem Leben werde ich stehlen. Ich habe ein neues Kapitel aufgeschlagen, und das liegt alles an Ihrer Güte. Ich versichere Ihnen, wenn ich Kinder habe, werden meine Kinder von dem, was ich getan habe, nicht betroffen sein. Sie werden nicht so sein wie ich. Ich werde nur Aufrichtigkeit, Güte, Anteilnahme und Mitgefühl in die Herzen und das Leben meiner Kinder einfließen lassen, so wie Sie es bei mir gemacht haben.”

Wieder und wieder bedankte sich der junge Mann beim Schulleiter und sagte: „Sie haben mein Leben gerettet! Sie haben mein Leben gerettet!” Dann verbeugte sich der junge Mann noch einmal sehr tief vor dem Schulleiter und verabschiedete sich.

Am nächsten Tag erzählte der Schulleiter allen Schülern von diesem besonderen Vorfall. Die meisten der Schüler, die von der Diebstahl-Episode wussten, hatten bereits ihre Prüfungen abgelegt und ihren Abschluss gemacht.

Der Schulleiter sagte: „Vor vielen Jahren handelte jemand in dieser Schule falsch. Er stahl vielen Schülern Geld, während sie im Unterricht waren. Als er schließlich erwischt wurde, zeigte jemand diesem Jungen gegenüber Güte. Die meisten Leute wollten ihn ins Gefängnis stecken, aber dieser Jemand ließ das nicht zu. Der Junge krempelte sein Leben um und wurde sehr, sehr gut und nett. Ich sage euch das alles, weil ich nicht möchte, dass ihr die gleiche Geschichte wiederholt.

„Ihr dürft euch nicht angewöhnen, etwas zu stehlen. Gleichzeitig dürft ihr euch nicht angewöhnen, auf andere herabzublicken. Wir alle haben Schwächen. An welchem Punkt unsere Schwächen überhand nehmen werden, wissen wir nicht. Wenn wir zu anderen gütig und mitfühlend sind, besteht die Möglichkeit, dass unser Mitgefühl, unsere Güte und Vergebung sowohl in ihrem Leben wie auch in unserem Leben Wunder wirken.”

Sri Chinmoy, Die Kraft der Güte und andere Geschichten, The Golden Shore Verlagsges.mbH, Nürnberg, 2020
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