Frage: Guru, könntest du bitte den folgenden Aphorismus aus dem Buch „Nahrung für die Seele“ erläutern: „Ich sage die Wahrheit; die Welt ist gekränkt. Ich lüge; Gott ist gekränkt. Was soll ich nur tun? Stille. Ich muss in der Stille leben und zum lächelnden Odem der Stille werden. Siehe, die Welt liebt mich und Gott segnet mich!“

Sri Chinmoy: Wenn wir im Alltag die Wahrheit sagen, möchte sie die Welt nicht hören; sie ist sofort gekränkt. Hingegen lieben es die Menschen, wenn man ihnen schmeichelt. Sie verdienen unsere Schmeichelei nicht, aber sie möchten sie gerne hören. Wann immer wir ihnen etwas geben, das sie gar nicht verdienen, sind sie zufrieden mit uns.

Wahrheit ist so schmerzhaft. Wenn wir die Wahrheit sagen, müssen wir wissen, ob wir damit das göttliche Bewusstsein in anderen erwecken oder nur größere Feindseligkeit hervorrufen. Manchmal sagen wir die Wahrheit nur um sagen zu können: „Ich weiß die Wahrheit und du solltest sie auch wissen.“ Indem wir anderen aber die Wahrheit mit dieser Einstellung an den Kopf werfen, tun wir ihnen nichts Gutes, weil sie dann wahrscheinlich nichts damit anfangen beziehungsweise nicht damit umgehen können. Sie werden die Wahrheit nicht erkennen können, sondern lediglich verletzt sein. Dann werden sie uns und sich selbst gegenüber noch feindlicher gesinnt sein. Aus Überheblichkeit und Angst werden sie sogar noch ihre kleine Chance auf Wahrheit zunichte machen. Darum lasst uns immer sehr vorsichtig sein und daran denken, dass die Welt gekränkt ist, wenn wir die Wahrheit sagen. Die Welt ist noch nicht bereit, die Wahrheit zu hören und anzunehmen. Das Einzige, was die Welt hören will, ist Anerkennung und Schmeichelei. Wahrheit ist sehr schmerzhaft.

Lügen wir hingegen, so verletzen wir natürlich Gott. Darum muss ich in Stille leben und zum lächelnden Atem der Stille werden. Und siehe da, die Welt liebt mich und Gott segnet mich! Wenn wir wirklich in der Stille leben, in reinster Stille, dann werden Liebe, Reinheit und innere Freude von allein in uns wachsen. Stille bleibt nicht allein; in der Stille liegt Freude – eine Art inneres Entzücken und innere Zuversicht. Wenn wir also in der höchsten Stille verweilen, werden die göttlichen Qualitäten, welche in der Stille liegen, von allein auch zu den Menschen in unserer Umgebung fließen. Dann wird uns die Welt zutiefst schätzen.

Wir meinen vielleicht, indem wir still bleiben, würden wir uns bloß niemanden zum Feind machen. Handelt es sich aber um wirkliche göttliche Stille, so strahlt sie innere Göttlichkeit aus. Und diese innere Göttlichkeit fließt auch zu den Menschen in unserer Umgebung. Dann werden sie uns wirklich lieben, weil sie unbewusst fühlen, dass etwas Wohltuendes von uns ausgeht. Sie werden nicht genau wissen, was es ist, aber sie werden fühlen, dass wir ihnen etwas Handfestes, Tiefgehendes und Bedeutungsvolles schenken, das sie wirklich benötigen, und unsere Gaben zutiefst schätzen.

Gott wird uns augenblicklich segnen, wenn es Ihm gelingt, unser Dasein in ein Meer der Stille zu verwandeln. Und wenn wir uns von dem Tumult, den Sorgen und dem Zaudern in der Welt befreien können, wird uns Gott abermals segnen. Im Meer der Stille wächst unser wahres göttliches Leben. Das göttliche Leben kann in jedem Menschen nur dann gedeihen, wenn er innerlich und äußerlich Stille bewahren kann. Diese Stille ist keine Totenstille. Sie wirkt äußerst dynamisch und kraftvoll, aber niemals aggressiv. Sie wirkt mit der Kraft der Seele.

Während wir etwas tun, bleiben wir innerlich ruhig und gelassen. Verbleiben wir hingegen in der Stille, so laufen wir innerlich sehr schnell, auch wenn keine äußere Bewegung stattfindet. Alles geschieht in der inneren Welt, in der Seelenwelt, in der die Stille äußerst dynamisch und erfüllend ist. Wenn wir diese Art der Stille erlangt haben, wird uns Gott natürlich segnen, weil wir die Wahrheit erkannt haben und die Wahrheit leben.

Sri Chinmoy, Vollkommenheit und Transzendenz, The Golden Shore Verlagsges.mbH, Nürnberg, 2008
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