Teil VI

SCA 296-304. Die folgenden Fragen wurden im April und Mai 1995 gestellt.

Frage: Du erzählst uns oft die Geschichte, in der Lord Krishna von Arjuna die Farbe einer Frucht, die auf einem nahegelegenen Baum wächst, wissen will. Jedes Mal, wenn Arjuna eine Farbe nennt, behauptet Krishna, es sei eine andere Farbe, und Arjuna wechselt sofort seine Meinung, um mit Krishna überein zu stimmen. Wenn wir nun gemeinsam mit dir arbeiten, wie sollen wir wissen, wann wir mit dir übereinstimmen und wann wir unsere eigene persönliche Meinung anbieten sollten?

Sri Chinmoy: Ein spiritueller Meister befasst sich mit sehr vielen Ebenen des Bewusstseins. Es existiert eine Bewusst­seinsebene, die in der irdische Wirklichkeit nicht als solche existiert. Wenn du behauptest, etwas sei blau oder rot, beschreibst du damit die irdische Realität. Doch die Realitäten in den höheren Welten sind nicht damit vergleichbar. Diese hängen völlig von Gott oder den kosmischen Göttern ab. Lord Krishna wusste, dass die Früchte, die Arjuna betrachtet, auf der irdischen Ebene eine bestimmte Farbe haben. Doch er wollte, dass Arjuna eine höhere Ebene erklimmt, eine Ebene, in der die Früchte nicht einmal existieren, wo selbst der Baum nicht existiert. Auf jener Ebene existiert einzig und allein das Einssein mit Gottes Willen. Für Arjuna verkörperte Lord Krishna Gott. Um nun diese höhere Ebene zu erreichen, benötigte Arjuna Einssein mit dem Willen Lord Krishnas.

Ganz gleich, wie oft Krishna sich selbst widersprach, Arjuna stimmte mit ihm überein. Wäre Arjuna ein gewöhnlicher Mensch gewesen, hätte er gefragt: „Wie oft muss ich dir noch zustimmen? Du hast mich korrigiert und ich stimmte dir zu. Nun hast du es dir wieder anders überlegt! Was bist du nur für ein Mann?“ Doch Arjuna reagierte nicht auf diese Weise. Er zeigte Gehorsam und legte eine enorme Geduld an den Tag. Alle spirituellen Menschen müssen diese Art der Prüfung durchlaufen.

Arjuna mag dumm erscheinen, da er ständig seine Meinung änderte. Doch Arjuna war kein Narr. Er war nicht so gut gebildet wie sein Bruder Yudhishthira, doch noch immer sehr viel besser als die meisten Menschen seiner Zeit, einschließlich Bhima, seine anderen Brüder, seine Cousins usw. Doch Arjuna erkannte, dass er sowohl über die Form als auch über das Formlose hinaus gehen muss, um mit Lord Krishna eins zu sein. Sein Gebet lautete: „Herr, ich will eins sein mit Dir. Ich will durch Deine Augen sehen; ich will mit Deinem Herzen fühlen.“ Manche Menschen sind überaus klug. Sie sprechen dieses Gebet, doch sie sehen weiterhin mit ihren eigenen Augen und fühlen weiterhin mit ihren eigenen Herzen. Doch Arjuna gehört nicht zu ihnen; für ihn bestand dieses Gebet nicht nur aus leeren Worten. Er wusste, dass Lord Krishna Gott war. Aus diesem Grund gab er ein Versprechen: „Herr, von nun an, werde ich mich Dir völlig hingeben und mit Deinem Willen eins werden.“

Diese Art des Einsseins existiert auch in der gewöhnlichen menschlichen Welt. Eine bengalische Mutter wird ihrem Kind das Wort „Phul“ beibringen, das Blume bedeutet. Doch ein kleines Kind wird lange brauchen, bis es das Wort richtig aussprechen kann. Es sagt „phu, phu“ und schafft es nicht, den Buchstaben „l“ auszusprechen. Auch nach zwanzig Mal sagt es noch immer phu, phu. Die Mutter bemerkt, dass das Kind eine enorme Freude erhält, wenn es phu sagt. Wenn ihr Herz nun ganz von Einssein erfüllt ist, beginnt sie ebenfalls phu zu sagen, um das Kind glücklich zu machen. Ihre Liebe zum Kind ist unendlich wichtiger für sie, als die richtige Aussprache des Wortes. Ihre Mutterliebe existiert zu einhundert Prozent auf der menschlichen Ebene und sie ist dermaßen stark, dass sie sich der Sprache ihres Kindes unterordnet. Manchmal kann man diese bengalischen Mütter noch nach zwanzig oder dreißig Jahren diese falschen Wörter aussprechen hören, die sie von ihren Kindern gelernt haben. Noch immer erhalten sie so viel Freude von diesen Kinderwörtern. Das nennt man auf der gewöhnlichen menschlichen Ebene Liebe zwischen zwei Menschen.

Wenn eine Mutter auf der menschlichen Ebene eine Blume „phu“ nennen kann, um ihr kleines Kind zu erfreuen, kann sich dann ein Schüler auf einer göttlichen Ebene nicht der Art des Meisters, so wie dieser die Realität erkennt, hingeben? Wenn der Meister behauptet, eins und eins ergäbe vier, so würden gewöhnliche Menschen sagen: „Der Meister ist offensichtlich ein Idiot. Ich will nicht mit ihm in Verbindung gebracht werden.“ Doch der wahrhaftige Schüler wird sagen: „Mein Meister ist ein Ozean aus Liebe, Licht und Glückseligkeit. Wenn er sagt, eins und eins ergibt vier, so muss er recht haben.“ Jene Schüler, die darauf bestehen, dass eins plus eins zwei ergibt, sind vom mathematischen Standpunkt aus korrekt, doch spirituell gesehen sind sie Millionen und Milliarden von Meilen von der höchsten Wahrheit entfernt.

Wenn du auf der menschlichen Ebene einem kleinen Kind schmeichelst, so wird es in die Küche gehen und dir etwas Köstliches zu essen bringen. Wenn du ihm nicht zustimmst, wird es dir nichts bringen. Manchmal handelt Gott genauso wie ein kleines Kind. Indem du auf dich selbst hörst, erhältst du sicher eine gewisse Zufriedenheit. Doch wirst du den Liebes- und Lichtozean deines Meisters erhalten? Wer wird ihn dir gewähren? Derjenige, mit dem du nicht übereinstimmen konntest?

Das Problem ist Folgendes: Jeder Mensch hat auf der mentalen Ebene gewisse Ideen formuliert. Doch ein spiritueller Meister kümmert sich nicht um deine mentalen Ideen; er interessiert sich nur, wie viel Einssein du mit ihm errichtet hast. Wenn du mit ihm übereinstimmst, schenkt er dir solch ein besonderes Lächeln, so viel Zuneigung, so viel Segen. Ganz gleich, wie überzeugt dein Verstand auch ist, er kann dir niemals dieses Lächeln, diese Zuneigung und diesen Segen bringen. Du musst einen Vergleich ziehen. Erkenne den Unterschied, was dein eigener Verstandesraum dir geben kann und was der Herzensraum deines Meisters dir geben kann. Indem du dem Meister zustimmst, wirst du viel mehr vom inneren Reichtum des Meisters erhalten, als wenn du an deinem eigenen beschränkten mentalen Konzept von der Wahrheit festhältst.

Sri Chinmoy, Sri Chinmoy antwortet, Teil 7, The Golden Shore Verlagsges.mbH, Nürnberg, 2006
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