Frage: Wenn es einem schwer fällt, voller Aufrichtigkeit auf das höchste Ziel zuzugehen, ist es dann besser, das höchste Ziel unaufrichtig anzustreben oder ist es besser, sich auf ein dazwischenliegendes Ziel zu konzentrieren, dafür aber aufrichtig?
Sri Chinmoy: Ein dazwischenliegendes Ziel gibt es nur für jene, die das spirituelle Leben nicht angenommen haben. Für Menschen, die im gewöhnlichen Leben gefangen sind. Diese befinden sich bereits auf einer niedrigeren Ebene, da sie an ihre Kinder, ihre Männer oder Frauen, an ihr irdisches Leben denken müssen. Sofern keine Strebsamkeit vorhanden ist und man die Notwendigkeit, innere Berge zu erklimmen, nicht verspürt, ist man natürlich zufrieden, wenn man einen Hügel erklimmen kann. Doch sobald man zu streben beginnt und ein spirituelles Leben anfängt, muss unser Ziel das Höchste sein. Unaufrichtige Sucher können sich an einem dazwischenliegenden Ziel orientieren, doch für jene, die Gottes wahre Instrumente sein wollen, und die den inneren Mut besitzen, zu sagen: „Ich bin in diese Welt gekommen, Gott auf Seine eigene Weise zufrieden zu stellen“, darf es dieses Ziel nicht geben. Sie müssen auf den höchsten Ast des Strebsamkeits-Lebensbaumes klettern. Vielleicht rutschen sie ab und fallen, nachdem sie ein paar Meter erklimmt haben; vielleicht fallen sie auch immer wieder, doch ihr Ziel muss weiterhin das Höchste sein.Sobald wir anfangen, mit dem äußeren Leben Kompromisse einzugehen, beenden wir damit unser spirituelles Leben. Wenn wir denken, wir könnten uns in das äußere Leben völlig einbringen, halten wir uns bloß selbst zum Narren. Bevor wir Notiz davon nehmen, wird uns das äußere Leben beherrschen und unser inneres Leben wird enden. Wenn wir unsere Ernsthaftigkeit im spirituellen Leben verlieren, ist es das Ende.
Zuerst sagen wir zu Gott: „Ich stelle dich zu fünfzig Prozent zufrieden und Du stellst mich auch zu fünfzig Prozent zufrieden.“ Doch letzten Endes werden wir sagen: „Gott, stelle Du mich zu neunzig Prozent zufrieden, denn ich bin zu schwach.“ Und unsere letzte Botschaft wird lauten: „Gott, ich bin so nutzlos! Du musst mich zu neunundneunzig Prozent zufrieden stellen.“ Dann ist das Spiel aus. Wenn wir mit einer einprozentigen Verbindung zu unserem inneren Leben, zu unserer Quelle zufrieden sein können, ist unser spirituelles Leben ein totaler Misserfolg. An jenem Tag, an dem wir das spirituelle Leben angenommen haben, hegten wir die Hoffnung und besaßen den Eifer, das Höchste zu erreichen. Niemand trat unserem spirituellen Pfad bei mit dem Gedanken: „Es reicht, ein bisschen Freude zu erhalten oder meine Eifersucht und meine Zweifel ein bisschen zu verringern.“ Nein, jeder kam mit dem Eifer, der Bereitschaft und der inneren Notwendigkeit, eine vollkommen göttliche Person zu werden. In seltenen Fällen kamen manche, um zu sehen, wie der Pfad ist, welche Art von Blumen wir anbieten und ob diese Blumen wirklich schön und wohlduftend sind. Doch in den meisten Fällen traten die Schüler diesen Pfad bei, um das Höchste zu erreichen, und das wäre, Gott auf Gottes eigene Weise durch Liebe, Hingabe und Überantwortung zufrieden zu stellen. Wenn das unser Ziel ist, müssen wir innerlich den höchsten Berg erklimmen. Das Problem ist, wir vergessen aus Überlegung heraus - und somit vorsätzlich - unser Ziel.
Es stimmt, die jeweilige Höhe der Menschen ist unterschiedlich, aber die Bereitschaft aller Personen kann die gleiche sein. Der eine Schüler hat die Fähigkeit, nur eine Meile mit dem Meister zu gehen, während ein anderer mit dem Meister einen Marathon laufen kann. Doch gemeinsam mit der Fähigkeit sind auch Bereitschaft und Fleiß von enormer Bedeutung. Wenn jemand nur über geringe Fähigkeiten verfügt, so rechnet Gott doch die Bereitschaft dieser Person an. Wenn Gott aufrichtige Bereitschaft erkennt, wird er sofort die Fähigkeit dieser Person steigern. So viele Personen hier sind nur zwei Meilen pro Tag gelaufen und später konnten sie doch einen Marathon zu Ende bringen. Alles aufgrund ihres Fleißes. Bevor ich selbst meinen ersten Marathon bewältigt habe, lief ich höchstens drei oder vier Meilen in einem Stück. Doch mein Fleiß brachte mich an mein Ziel.