Frage: Kann uns der Verstand helfen, Gottes Willen zu entdecken?
Sri Chinmoy: Meistens haben wir keine Ahnung, wie der Wille Gottes lautet. Der Verstand tritt hervor und erzählt mir: „Der Wille Gottes lautet so und so.“ Doch wenn wir tief nach innen tauchen, erkennen wir, dass sich der Verstand hundertprozentig irrt. Auch das Herz kann sich irren. Und das Vitale und das Physische liegen sowieso immer falsch. Doch wenn man die Seele zu sehen vermag und während der Meditation mit ihr sprechen kann, wird die Seele uns sagen: „Dies ist richtig, dies ist falsch.“Der Verstand ist wie ein Volksschullehrer. Es gibt viele Fragen, die ein Volksschullehrer nicht beantworten kann. Das Herz ist wie der Lehrer an einer weiterführenden Schule. Dann kommt die Seele, sie ist wie ein Lehrer an einer Akademie; dann kommt der Supreme, Er ist wie ein Universitätsprofessor. Der Verstand ist so schlimm; er unternimmt alles in seiner Macht stehende, um zu verhindern, dass das Herz uns etwas beibringt. Er sagt: „Erst wenn du alles von mir gelernt hast, sollst du die nächste Unterrichtsstunde besuchen.“ Wenn dann der Verstand erkennt, dass jemand ein guter Schüler und bereit ist, aufzusteigen, lässt der Verstand ihn berechnender Weise durchfallen, um ihn länger bei sich zu halten.
Nach ein paar Jahren entwickelt der Schüler einen Widerwillen; er denkt, er könne sowieso niemals über die Volksschule hinauskommen. Das ist der Zeitpunkt, an dem viele, viele Sucher das spirituelle Leben aufgeben. Sie geben auf, weil der Verstand sie empfinden lässt, dass sie nicht einmal in eine weiterführende Schule aufsteigen können, ganz zu schweigen von einer Akademie.
Der Verstandeslehrer weiß sehr oft keine Antwort, doch er vermittelt uns das Gefühl, dass er sie weiß. Eine Frage aus den Tiefen unseres Herzens kann der Verstand niemals beantworten. Doch er lässt uns empfinden, dass er alles weiß. Er erteilt uns ständig fehlerhafte Lektionen, und trotzdem sagt er uns: „Meine Antworten sind perfekt, perfekt, perfekt!“ Uns unterlaufen ständig Fehler, weil wir unser ganzes Leben dem Verstand anvertrauen.
Der Verstand will nur auf eine ganz bestimmte Art und Weise Freude empfinden. Er sagt: „Das ist der einzige Weg. Es gibt keinen anderen Weg.“ Wie ein Diktator; der Verstand hat gesprochen!
Doch dann kommt die Seele oder ein Meister zu uns und sie zeigen uns einen anderen Weg. Der Verstand sagt sofort: „O mein Gott, das ist unmöglich, unmöglich.“ Der Verstand hält eine Türe offen und befiehlt uns, durch diese Türe zu gehen; er erlaubt uns nicht, andere Wege zu betreten. In einem großen Haus kann es viele Türen geben, doch der Verstand erlaubt uns nicht, sie auszuprobieren; er hält diese Türen verschlossen. Doch wenn die Seele erkennt, dass wir verzweifelt versuchen, über den Verstand hinaus zu gehen, öffnet sie uns so manche Tür. Es muss sich dabei nicht einmal um eine Tür handeln, nein! Selbst wenn die Seele uns bloß ein Fenster öffnet, sind wir schon überaus glücklich!
Wenn wir die Grenzen des Verstandes nicht überschreiten können, sitzen wir in einer Falle. Es ist, als ob wir in ein Gefängnis gesperrt wären. Das einzige, was wir tun können, ist zu jemanden zu beten, damit er komme und uns befreien möge, und dieser jemand ist entweder der Meister oder der Supreme. Es ist gleich, an wen wir unsere Gebete richten, denn die Gnade des Supreme wirkt auch in und durch den Meister.
Ich vertrat schon immer die Ansicht, dass kein höheres Gebet als das des Erlösers Jesus Christus existieren kann: „Dein Wille geschehe.“ Doch wenn ein Bauer einfach nur in seiner Hütte sitzt, und die Worte wiederholt: „Dein Wille geschehe“, wird es ihm nie möglich sein, eine reiche Ernte einzubringen. Nein, der Bauer muss sein Feld pflügen, es bewässern und düngen und auch alle anderen notwendigen Arbeiten erledigen. Erst dann, nachdem er alles in seiner Macht stehende unternommen hat, ist er berechtigt, zu sagen: „Dein Wille geschehe“. Dieses Gebet sollte erst dann über unsere Lippen kommen, wenn wir wirklich alles getan haben, was wir tun konnten, und nur nachdem wir alle Fähigkeiten, die Gott uns geschenkt hat, auch ausgeschöpft haben. Ab diesem Zeitpunkt dürfen wir sagen: „Oh Gott, Du hast mir die Fähigkeit gegeben, gewisse Dinge zu tun, und ich habe sie getan. Nun kann ich nicht mehr weiter, höher oder tiefer gehen. Dein Wille geschehe.“ Dann kommt Gott und vergrößert unsere Fähigkeiten – sowohl innerlich als auch äußerlich.