Die Aufgabe alter Freunde

Frage: Ist es notwendig, seine alten Freunde aufzugeben, wenn man ins spirituelle Leben eintritt, Freunde, die möglicherweise einen schlechten Einfluss haben, die man aber immer noch gern hat?

Sri Chinmoy: Wenn diese Freunde nicht strebsam sind, wenn sie dich lächerlich machen und dir ständig im Weg stehen, dann sind sie wie wirkliche Feinde. Sie zu lieben, bedeutet eine giftige Schlange zu lieben. Wenn ein Freund nicht strebsam ist, dann solltest du dir bewusst sein, dass er nicht länger dein Freund ist, und wenn du ihn dazu zwingen willst, strebsam zu sein, handelst auch du wie sein Feind. Der Freund, der nicht strebt, schläft. Du bist wach, du bist bereit zu beten und zu meditieren. Du glaubst, deinem Freund einen großen Gefallen zu tun, wenn du ihn drängst und ihm sagst: „Steh auf, steh auf, es ist Zeit zum Meditieren.“ Von deinem Standpunkt aus tust du ihm einen Gefallen, aber von seinem Standpunkt aus ist es alles andere als ein Gefallen. Du hast das Gefühl, das Richtige zu tun, aber er ist nicht bereit, dein Licht zu empfangen. Er will schlafen, und er wird dich als seinen wirklichen Feind betrachten. Du störst den erhabenen Frieden seines Schlafes, der für dich Trägheit und Tod ist. Dein Frieden ist Meditation und Gebet; sein Frieden ist lebloser Schlaf. Dein Frieden kommt von bewusster Meditation, und sein Frieden kommt von Unbewusstheit und Trägheit. Deshalb passt dein Frieden und sein Frieden nicht zusammen. Wenn du nun deine alten Freunde auf der Straße siehst, so brauchst du dein Gesicht nicht abwenden. Du kannst sie grüßen und für zwei, drei Minuten mit ihnen plaudern. Aber wenn du den Abend mit ihnen verbringst, in der Meinung, sie emporheben zu können, wenn du auf ihr Niveau hinab steigst, dann wirst du selbst davon in Mitleidenschaft gezogen. Du solltest dir bewusst sein, dass für dich die Stunde geschlagen hat. Du bist jetzt an der Reihe, und du hast auf den Willen Gottes gehört. Wenn für deine Freunde die Stunde kommt, werden auch sie hören. Aber wenn du dich für die anderen verantwortlich fühlst, überschätzt du ganz einfach deine Fähigkeit. Derjenige, der dich erweckt hat, hat auch die Fähigkeit, deine Freunde zu erwecken, wenn die Zeit für sie kommt.

Du läufst deinem Ziel entgegen. Wenn du ständig zurückschaust, um zu sehen, ob deine Freunde dir folgen, wirst du das Ziel nie erreichen. Zuerst musst du selbst das Ziel erreichen; erst dann kannst du jemand anderen ans Ziel bringen. Sonst gehst du leicht selbst verloren.

Vielleicht hast du auch Freunde, die sehr aufrichtig und gutherzig sind, jedoch keine Strebsamkeit haben. Was tun sie dann? Angenommen, du gehst in einen Laden, und der Ladenbesitzer ist sehr nett und höflich zu dir. Wirst du nun all dein Geld dort ausgeben, nur weil er nett und höflich ist, auch wenn er nichts hat, was du brauchst? Nein. Er ist nett, und du schätzt dies, und wenn du je etwas brauchst, das er in seinem Laden führt, wirst du es bei ihm kaufen. Im Moment brauchst du jedoch nichts von ihm. Auch hier kannst du mit jemandem, der nicht strebsam, auf moralischer oder physischer Ebene jedoch sehr nett zu dir ist, einige Minuten verbringen. Aber es wäre eine Torheit, stundenlang mit ihm über spirituelle Dinge zu sprechen, die ihn nicht interessieren, bloß weil du siehst, dass er aufrichtig ist. Du musst wissen, wie entwickelt der andere ist, und wie viel ihm seine Strebsamkeit von deinem spirituellen Licht zu empfangen erlaubt. Viele Leute sind sehr nett und aufrichtig, aber wenn es darum geht, eine Minute lang zu beten, sind sie überhaupt nicht interessiert. Wenn es auf ihre Strebsamkeit ankommt, sind sie nirgends.

Wenn jemand kein wirkliches, auf ein Ziel gerichtetes inneres Streben nach Licht besitzt, sollte der Suchende nicht viel Zeit mit ihm verbringen. Sonst verbringst du drei Stunden auf einer Party in einem Haus von irgendeinem Bekannten und sprichst über seine Neffen, seine Nichte, seinen Schwiegervater usw. Nun, an dieser Art von Gespräch ist nichts auszusetzen. Du kritisierst niemanden. Aber wenn du von der Party nach Hause kommst, wirst du dich verwünschen, weil du deine Zeit verschwendet hast und dein Bewusstsein gesunken ist. Was hast du den anderen gegeben? Vitale Anregung. Und was hast du im Gegenzug erhalten? Absoluten spirituellen Plunder. Diese Dinge haben keinen Wert für dein spirituelles Leben. Unnötiger gesellschaftlicher Umgang mit Leuten, die nicht nach einem spirituellen Ziel streben, ist reine Zeitverschwendung.

Aber Schüler, die zum selben Boot gehören, sollen miteinander verkehren. Sie sollen sich als Familie fühlen. Heute ist dein Streben vielleicht sehr stark, während das deines Freundes sehr schwach ist. So wirst du ihn durch deine Strebsamkeit emporheben. Morgen hast du vielleicht ein Tief und dein Freund wird dich emporheben. Selbst wenn ihr über völlig unwichtige Dinge sprecht, wirst du in dem Augenblick innerlich gestärkt werden, wo du mit denen verkehrst, die in deinem eigenen spirituellen Boot sind. Vielleicht bist du dir nicht bewusst, dass du heute Freude oder Stärke brauchst, und derjenige, mit dem du sprichst, mag sich dessen ebenso wenig bewusst sein. Aber im Geheimen spielen eure Seelen ein Spiel. Seine Seele gibt dir etwas, auch wenn du nicht weißt, dass du es brauchst, und er nicht weiß, dass er dir etwas gibt. Ich versichere dir: weil ihr beide auf demselben Pfad, auf meinem Pfad seid, sind eure Seelen mehr als willig zu geben. Darum sage ich immer: “Wenn ihr eure Brüder und Schwestern seht, solltet ihr miteinander reden und zusammen sein.” Denn ihr wisst nicht, wer etwas braucht und wer etwas geben kann.

Dies alles gilt natürlich nur für jene, die das spirituelle Leben von ganzem Herzen annehmen und für die Gott und Gott-Verwirklichung in ihrem Leben an erster Stelle kommt. Jene, die meinem Pfad nur deshalb folgen, um ein bisschen Frieden zu bekommen, ein bisschen Freude und Befriedigung, können mit ihren alten Freundschaften und Bindungen fortfahren. Aber sie müssen sich bewusst sein, dass ihr Fortschritt im spirituellen Leben zwangsläufig langsamer sein wird, weil sie jedes Mal, wenn sie ein Quentchen Frieden, Licht oder Freude erhalten, es gleich wieder verschwenden, sobald sie mit unstrebsamen Leuten verkehren. Jeder einzelne Sucher muss selbst wissen, welche Art von Fortschritt er machen will.

Sri Chinmoy, Primer, The Golden Shore Verlagsges.mbH, Nürnberg, 2020
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