Frage: Gibt es einen Unterschied zwischen der Verwirklichung eines Meisters und der Verwirklichung eines anderen?

Sri Chinmoy: So wie es verschiedene Arten von Menschen gibt, so gibt es auch verschiedene Arten von Yogis. Die Yogis befinden sich nicht alle auf derselben Ebene. Ein völlig verwirklichter Yogi ist derjenige, der mit Gottes Bewusstsein völlig eins ist und sich seines Einsseins mit Gott ständig gewahr ist. Daneben gibt es auch halbverwirklichte oder teilweise verwirklichte Yogis. Während ihrer Meditation, einige Stunden am Tag, werden sie eins mit Gott. Die übrige Zeit jedoch sind sie wie gewöhnliche Menschen ohne bewusstes Einssein mit Gott. Ob sie mit Gott ständig eins sein können, hängt davon ab, was für eine Art von Verwirklichung die betreffenden Yogis erreicht haben.

Gottverwirklichung ist wie ein Baum: Man kann zu ihm hinlaufen, den Baum der Verwirklichung berühren und sagen: „Ich bin verwirklicht.“ Doch diese Verwirklichung besteht nur darin, den Fuß des Baumes zu berühren. Man mag sehr glücklich sein, wenn man den Fuß des Baumes berührt, denn aus der Ferne kann man die einzelnen Blätter und Äste nicht sehen oder erkennen, ob der Baum Früchte trägt. Nun aber kann man sie berühren, in den Händen halten und fühlen. Man weiß, dass man das Ziel erreicht hat. Eine andere Person mag sagen: „Nein, damit bin ich noch nicht zufrieden. Ich will hinaufklettern und mich auf einen Ast setzen; erst dann werde ich mein Ziel erreicht haben.“ Deshalb klettert sie eine Stufe höher, und so ist natürlich auch ihre Verwirklichung höher. Eine dritte Person wird dann vielleicht auf den höchsten Ast hinaufklettern und sich dort an den Früchten laben. Ihre Verwirklichung ist noch höher, weil sie das Höchste nicht nur gesehen und berührt hat, sondern selbst zum Höchsten hinauf geklettert ist. Doch sie hat nicht die Absicht, wieder herunter zu kommen, denn sie hat Angst davor, dann wieder zu einem gewöhnlichen Menschen zu werden und im Schlamm der unwissenden Welt zu versinken und vielleicht nie wieder hinaufklettern zu können.

Doch es gibt noch eine andere Art von verwirklichten Seelen, die nicht nur zum Höchsten hinaufklettern, sondern auch die Früchte des Baumes für die Welt herab bringen. Solche Seelen kommen herab, um zu manifestieren. Sie sagen: ‚Ich bin nicht zufrieden, wenn ich hier oben auf dem Baum sitze. Das ist nicht mein Ziel. Ich möchte mit der Menschheit teilen, was ich habe.’ Ein solcher Yogi kann den Baum nach Belieben hinauf- und hinabklettern. Wenn er herabkommt, bringt er von oben Mitgefühl, Frieden, Licht und Glückseligkeit herab und wenn er hinaufklettert, nimmt er die Menschheit mit sich. Er nimmt einige Menschen auf seine Schultern und klettert hinauf. Er wird diese Seelen eine Weile da oben lassen und dann wieder herabkommen, um ein paar weitere Seelen auf seine Schultern zu laden. Seine Fähigkeit ist unendlich viel größer als diejenige des Yogis, der nur zum Baum kommt und den Baum berührt. Dies stellt die höchste Art der Verwirklichung dar. In Indien gab es eine ganze Reihe spiritueller Meister, die teilweise verwirklicht waren. Sie haben den Fuß des Baumes berührt, sind jedoch nicht auf den höchsten Ast hinaufgeklettert. Sie werden von den Suchern für sehr große Meister gehalten, doch wenn man ihr Niveau mit demjenigen von Sri Krishna, Jesus Christus oder Buddha vergleicht, muss man eingestehen, dass jene, die den Baum nur berührt haben, nur eine teilweise Verwirklichung erreicht haben.

Wenn ein Hindu einen Tropfen Gangeswasser berührt, wird er ein Gefühl von Reinheit spüren. Doch wenn jemand die Fähigkeit hat, über den Ganges zu schwimmen, wird er natürlich tiefer davon überzeugt sein, dass sein ganzer Körper gereinigt ist. Bei der Verwirklichung kann man ebenfalls mit einem Tropfen Nektar zufrieden sein, oder man kann sagen: ‚Nein, ich brauche den grenzenlosen Ozean.’ Man kann auch sagen: ‚Ich möchte mit den anderen teilen.’ Die Verwirklichung desjenigen, der die Fähigkeit besitzt, seine höchste Verwirklichung mit anderen zu teilen, ist der Verwirklichung der anderen beiden zweifellos überlegen.

Sri Ramakrishna pflegte über den jivakoti und den ishvarakoti zu sprechen. Der Jivakoti ist jemand, der Gott verwirklicht hat, jedoch nicht wieder in den Bereich der Manifestation eintreten will. Jemand, der ein Boot, ein kleines Boot besitzt, kann zwar das Meer der Unwissenheit selbst überqueren, doch er kann andere nicht mitnehmen. Der Ishvarakoti hingegen besitzt ein großes Schiff und kann Hunderte und Tausende von Menschenseelen mitnehmen und sie über das Meer der Unwissenheit führen. Er kommt wieder und wieder in die Welt, um die Menschen zu befreien.

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