Teil 1: Spirituelle und philosophische Artikel

Der Mensch und Gott

Der Mensch und Gott sind ewig eins. Wie Gott ist auch der Mensch unendlich. Wie der Mensch ist auch Gott endlich. Es gibt keine gähnende Kluft zwischen dem Menschen und Gott. Der Mensch ist der Gott von morgen; Gott ist der Mensch von gestern und heute.

Wie Gott im Himmel ist, so ist Er auch auf der Erde. Er ist hier, dort und überall. Jeder Mensch hat seinen eigenen Gott. Es gibt kein menschliches Wesen ohne einen Gott. Der überzeugte Atheist glaubt nicht an Gott. Aber glücklicherweise glaubt er, oder eher unglücklicherweise muss er glauben, an eine bestimmte Idee nämlich, an irgendeinen Begriff der Ordnung oder Unordnung. Und diese Idee, dieser Begriff, ist nichts anderes als Gott.

Jeder individuellen Seele muss Freiheit, absolute Freiheit gegeben werden, ihren eigenen Weg zu finden. Fehler auf dem Pfad der Spiritualität sind keineswegs zu beklagen, denn Fehler sind einfach niedrigere Wahrheiten. Wir entwickeln uns nicht von der Falschheit zur Wahrheit. Wir entwickeln uns von der am wenigsten enthüllten zu der am meisten enthüllten Wahrheit.

Bis wir Gott verwirklicht haben und mit Gott eins geworden sind, müssen wir uns an Ihn als Meister, Führer, Freund und so weiter wenden. Je nach unserer Beziehung zu Ihm kann sich unsere Haltung zu Ihm ändern. Dies bleibt ohne Folgen. Von höchster Wichtigkeit ist, dass wir Gott ganz als unser Eigen lieben. In unserer aufrichtigen Liebe zu Gott werden wir spontan inspiriert, Ihn zu verehren.

Dazu sollten wir wissen, welche Art der Verehrung zu uns passt, welche Art der Verehrung mit der Entwicklung und der Neigung unserer Seele übereinstimmt. Die Verwirklichung des absoluten Einsseins mit Gott ist die höchste Form der Verehrung. Die nächste in absteigender Linie ist die Meditation. Tiefer liegen Gebete und Anrufungen. Die niedrigste Form der Verehrung ist die Verehrung von Gott in weltlichen Dingen.

Wenn ich denke, die Flöte und der Flötenspieler seien zwei verschiedene Dinge, dann denke ich an mich selbst als Diener Gottes und an Ihn als meinen Meister. Wenn ich hingegen fühle, dass die Flöte einen Teil des Bewusstseins ihres Meisters hat, fühle ich, dass ich Gottes Kind bin und Er mein Vater ist. Wenn ich schließlich erkenne, dass die Flöte und der Flötenspieler eins sind, dann erscheint der Flötist als Geist (Spirit) und ich als Seine schöpferische Kraft.

Der Mensch muss Gott in diesem Körper hier auf der Erde verwirklichen. Der große indische Dichter Kabir sagte:

"„Werden deine Fesseln nicht gesprengt, während du hier auf Erden weilst, welche Hoffnung besteht auf Befreiung im Tod? Es ist ein leerer Traum, dass sich die Seele mit Ihm vereinigen wird, weil sie vom Körper gewichen ist; wird Er jetzt gefunden, ist Er dann gefunden; wenn nicht, gehen wir, um in der Stadt des Todes wohnen."

Schwestern und Brüder, sinkt nicht in den Abgrund der Verzweiflung, auch wenn Ihr im Augenblick kein klares Streben nach Gott-Verwirklichung verspürt. Beginnt einfach Eure Reise, aufwärts, um Gottes Traum zu sehen, einwärts, um Gottes Traum zu besitzen, vorwärts, um Gottes Traum zu werden. Dieser Traum ist der Traum der absoluten Erfüllung.

Zahllos sind jene, die sich erst nach unzähligen Schicksalsschlägen oder nach langen Wanderungen durch die Wüsten des Lebens auf den Pfad des inneren Lebens begeben. Glücklich und gesegnet ist in der Tat derjenige, der seinen Körper, seinen Verstand, sein Herz und seine Seele wie Blumen zu Füßen des Herrn legt, bevor er solche Schicksals­schläge erleidet. Es ist wahr, dass die unzähligen Wolken der Weltlichkeit unseren noch unerleuchteten Verstand bedecken. Doch es ist ebenso wahr, dass der Konzentrations-Vulkan des Suchenden und die Wasserstoffbombe seiner Meditation die Wolken, die uralten Nebel der Unwissenheit zerstören können und werden.

Lasst mich ein Wort zu jenen sagen, die verheiratet sind und große familiäre Verpflichtungen haben. Zu ihrem großen Erstaunen werden all diese Verpflichtungen in dem Augenblick in goldene Möglichkeiten verwandelt werden, in dem sie versuchen Gott in ihren Kindern zu sehen und erkennen, dass sie Gott in ihrer Selbstaufopferung dienen. Für die Fähigkeit der Frau, sich unermüdlich und spontan aufzuopfern, den Gatten zu erfüllen, ihn göttlich in der grenzenlosen Weite der Materie einzubetten und sein Bewusstsein in den Bereich des Spirituellen zu erheben, gibt es keinen Ersatz. Für die Fähigkeit des Mannes, die Seele der Frau mit dem Frieden des Jenseits zu überschwemmen, ihr Herz an die ewig lodernde Sonne der Unendlichkeit heranzuwinken und ihr Leben in das Lied der Unsterblichkeit umzuwandeln, gibt es keinen Ersatz. Und jene, die ledig sind, können versichert sein, dass sie allein sind, um auf dem spirituellen Pfad so schnell wie möglich vorwärts zu kommen. Untrennbar sind ihre Strebsamkeit und Gottes Inspiration.

Wenn wir versuchen, tief in uns zu schauen, wenn wir versuchen ein inneres Leben zu leben, dann ist es möglich, dass wir rundherum auf Schwierigkeiten stoßen. Wir rufen: „Schau, Gott, nun, da wir uns Dir zugewendet haben, müssen wir so viele Prüfungen durchstehen! Wir sind verwirrt, weil wir keinen Ausweg finden. Doch warum sollten wir verwirrt sein? Es kann unserem Gedächtnis nicht entgehen, dass wir in unserem Leben Missgeschicke erlitten haben. Bevor wir ein spirituelles Leben zu führen begannen, war Verzagtheit unser ständiger Begleiter. Nun sind wir zumindest in einer besseren Lage, da wir die Fähigkeit haben, den wilden Tiger der Weltlichkeit zu erkennen. Lasst uns Ruhelosigkeit und Schwachheit als Prüfungen auffassen.

Warum sollte uns Gott prüfen? Er tut alles andere als das. Er, der Gnadenvolle, warnt uns vor der drohenden Gefahr. Aber wenn wir diese Warnungen als Prüfungen betrachten, dann müssen wir zu Gott beten, um die Prüfungen zu bestehen. Wir können ein Examen nie bestehen, wenn wir nur an die Schwierigkeiten und Gefahren denken. Um eine Prüfung in der Schule zu bestehen, müssen wir hart arbeiten. Ganz ähnlich müssen wir größere Aufrichtigkeit entwickeln und die Flamme der Strebsamkeit entzünden, um eine innere Prüfung zu bestehen.
Während der Meditation müssen wir sehr vorsichtig sein. Manchmal will der Verstand gewissen weltlichen und emotionalen Ideen und Gedanken nachgeben, aber das dürfen wir ihm nicht erlauben.

Während der Meditation ist alles intensiv und wenn wir schlechten Gedanken nachgeben, sind die Folgen ernster und gefährlicher als sonst. In dem Augenblick, in dem unser Verstand ein Opfer selbstnachgiebiger Gedanken wird, werden wir geschwächt. Es liegt in der Natur unseres niedrigen Verstandes, uns zu täuschen. Doch unsere Tränen und die emporsteigende Flamme unseres Herzens werden uns stets zu Hilfe eilen.

Der Mensch und Gott sind eins. Alle Menschen gehören zur selben Familie. Wir sind alle eins. Ein echter Sucher darf nicht auf die absurden Argumente der Skeptiker hören. Sie besitzen auch nicht einen Deut an spirituellem Wissen. Sie sind sich der Tatsache nicht bewusst, dass sie unbewusst eine Parade ihrer Torheit vorführen. Sie sagen: „Wenn alle eins sind, warum habe ich dann kein Kopfweh, wenn du Kopfschmerzen hast? Wenn mein Hunger gestillt ist, warum ist dann deiner nicht gestillt?“ Wir könnten sie im Gegenzug fragen, warum ihr Kopf nicht schmerzt, wenn sie sich an einem Bein verletzt haben, da doch beide Teile zum selben Körper gehören. Das universale Bewusstsein ist in uns allen. Wenn wir uns dessen nicht bewusst sind, bedeutet dies nicht, dass es nicht existiert. Mein Körper ist mein Eigen. Aber spüre ich Schmerzen in meinem Bein, wenn ich mich am Kopf verletzt habe? Nein! Doch wenn ich mir des göttlichen Bewusstseins gewahr bin, das meinen ganzen Körper durchdringt, werde ich zweifelsohne denselben Schmerz in meinem ganzen Körper spüren. Hier ist die individuelle Seele mein Kopf und die kollektive Seele ist mein ganzer Körper. Um die gesamte Welt als ganz unser Eigen zu fühlen, müssen wir zuerst Gott als ganz unser Eigen fühlen.

Man is Infinity's Heart.
Man is Eternity's Breath.
Man is Immortality's Life.

Sri Chinmoy, Yoga und das spirituelle Leben, The Golden Shore Verlagsges. mbH, Nürnberg, 2007
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