Die Regeln des Meisters

Es lebte einmal ein spiritueller Meister, der mit seinen Schülern sehr streng war. Einmal in der Woche jedoch traf er sich mit neuen Schülern und jenen, die die Absicht hatten, Schüler zu werden. Mit diesen Suchern war er nicht streng. Nun geschah es, dass der Meister im vorhinein wusste, dass er in der kommenden Woche zu diesem Treffen mit Verspätung eintreffen würde. Deshalb beauftragte er einen seiner engen, langjährigen Schüler damit, vor seiner Ankunft einige Regeln und Vorschriften vorzulesen.

Doch leider, noch bevor dieser Schüler alle Texte vorgelesen hatte, begannen die Anwesenden, ihm Fragen zuzurufen und ihn zu beschimpfen. Sie beschwerten sich heftig über die neuen Anweisungen, die besagten, dass Schüler keine Drogen nehmen dürften, dass Männer keine Bärte tragen und ihre Haare kurz tragen sollten sowie dass sich die Schüler zurückhaltend kleiden sollten. Der bedauernswerte Schüler fühlte, dass es wohl das Beste für ihn sei, den Raum zu verlassen.

Als der Meister ankam, erzählte ihm der Schüler, was geschehen war. Der Meister wurde wütend. Er betrat den Meditationsraum, um das Treffen formell zu eröffnen. Er meditierte, der Gruppe zugewandt, lediglich fünf Minuten lang und sagte dann: „Einige Leute hier beschimpfen die Schüler, die dafür verantwortlich sind, diese Regeln niederzuschreiben bzw. sie euch vorzulesen. Aber es war mein Wunsch, dass diese Anweisungen so ausgedrückt werden sollten und es war mein ausdrücklicher Auftrag, dass dieser Schüler sie heute Abend hier vorlesen sollte. Ich übernehme hierfür die volle Verantwortung.

Manche unter euch finden diese Grundvoraussetzungen sehr streng, vielleicht sogar ungöttlich. Wenn die Formulierungen streng und ungöttlich scheinen, dann müsst ihr wissen, dass ich selbst gnadenlos unter vielen ungött­lichen Schwingungen litt, die durch das schlechte Benehmen sowohl der Schüler als auch der Nicht-Schüler hervorgerufen wurden. Ich fühle, dass nun die Zeit gekommen ist, etwas strenger zu sein und meine Überzeugung unmissverständlich zu vertreten. Wenn euch neue Sucher auf diese Regeln ansprechen, so gebt ihnen bitte weiter, was ich gerade gesagt habe.“

Ein neuer Schüler, der einen Bart trug, sagte: „Meister, ich bin etwas verwirrt, da einige deiner guten Schüler Bärte haben.“

Der Meister sagte: „Mein Sohn, du bist noch neu in unserem Center. Wenn du mein treuer Schüler sein willst, dann versuche bitte, meinem Wunsch nachzukommen.
Nun, es gibt keine Regel ohne Ausnahmen. Wenn ich einen unter zweihundert oder dreihundert bitte, seinen Bart zu behalten, dann bin ich dafür voll verantwortlich. Wenn du unter meinen Schülern jemanden entdeckst, der einen Bart hat oder lange Haare trägt, dann musst du wissen, dass derjenige entweder mein Einverständnis hat oder dass ich ihn persönlich darum gebeten habe. Es ist entweder mein Bedürfnis oder es ist das Bedürfnis der betreffenden Person. Wenn ich etwas erlaube, das gegen meine Regeln ist, so gilt das nur für die betreffende Person; diese Erlaubnis gilt nicht für alle.“

Ein junger Mann sprang auf und sagte in aggressivem Tonfall: „Jesus Christus hatte langes Haar.“

Sofort erwiderte der Meister: „Wenn du behauptest, Jesus Christus habe langes Haar gehabt, stimme ich dir zu. Wenn ich Christus sehen werde, werde ich hingehen und seine Füße berühren. Aber wenn ich dich sehe, werde ich einfach davonlaufen. Wenn du im Besitz des Christus-Bewusstseins bist, dann kannst du lange Haare haben. Ich habe viel über lange Haare geschrieben und gesprochen.

Meiner Meinung nach sollten Männer wie Männer und Frauen wie Frauen aussehen, gemessen an dem derzeit gültigen Standard. Vor hunderten von Jahren hatten die Männer lange Haare, aber deshalb haben wir im zwanzigsten Jahrhundert nicht das Recht, das Gleiche zu tun, nur weil es damals so war. Meistens denken die Leute, dass ihnen langes Haar eine Art sanfte, weiche und milde Qualität verleihen würde. Aber das ist nicht wahr. Trotz langer Haare kannst du eine sehr störende Schwingung haben. Ich habe beobachtet, dass lange Haare heutzutage eine bösartige Schwingung hervorrufen. Von nun an solltest du dein Haar kurz tragen und deinen Bart abrasieren. Deine Kleidung sollte sauber und ordentlich sein.“
„Glaubst du, dass es gerecht ist, uns am Konsumieren von Drogen hindern zu wollen?“, fragte ein anderer arrogant.
Der Meister sagte: „Wenn du immer noch Drogen nimmst, dann klopfst du an die falsche Tür. Unsere Tür wird dir nicht länger offen stehen. Ich kann dem Gebrauch von Drogen und Alkohol weder zustimmen noch es tolerieren. Ich sage immer, dass ihr das Rauchen oder das Kaffee- bzw. Teetrinken allmählich, Schritt für Schritt, aufgeben sollt. Im Falle von Drogen sage ich den Suchern nicht: ’Nach und nach könnt ihr damit aufhören.’ Ich sage ihnen: ‚Hört sofort damit auf!’“

„Bist du auch so streng, wenn es um die Einhaltung der Essensvorschriften geht?“ fragte ein Mädchen.

„Fleisch und Fisch“, erklärte der Meister, „und ganz besonders Fleisch bietet uns tierisches Bewusstsein an. Wenn wir Fleisch essen, erregt dies unsere subtilen Nerven. Fisch ist ebenfalls ungöttlich. Wenn wir Fisch zu uns nehmen, werden die subtilen Nerven lethargisch. Wir sind immer noch halbe Tiere. Wir streiten und kämpfen stets mitein­ander. Warum sollten wir unsere tierischen Eigenschaften stärken?“

Es gilt das gleiche, was ich bereits beim Trinken von Tee oder Kaffee erwähnt habe. Wenn es euch nicht gelingt, Fleisch oder Fisch auf einmal aufzugeben, dann macht euch keine Sorgen darüber. Ihr könnt versuchen jede Woche die Menge ein wenig zu reduzieren. Da ihr einem spirituellen Weg folgt, warum solltet ihr euren tierischen Eigenschaften noch etwas hinzufügen.?“

An diesem Punkt sagte ein Sucher: „Ich lerne noch bei einem anderen Meister, und er ist nicht so streng mit seinen Schülern.“

Der Meister erwiderte: „Genauso wenig wie wir das Recht haben, jemanden zu bekehren, hast auch du nicht das Recht, unseren Frieden, unser inneres Gleichgewicht und unser Gebet zu stören. Wir betteln nicht darum, dass du unseren Weg einschlägst. Wenn du von einem anderen Weg kommst, so macht das nichts, vorausgesetzt, du spürst die Notwendigkeit, nur unseren Weg zu gehen. Aber wenn du immer noch einen anderen Meister hast und gleichzeitig unseren Weg oder auch andere ausprobierst, wirst du keinen Fortschritt machen. In der gewöhnlichen Schule gibt es viele Unterrichtsfächer. Natürlich brauchst du für jedes Fach einen anderen Lehrer. Doch in der inneren Schule kann dies niemals der Fall sein. Im spirituellen Leben gibt es nur ein Fach und einen Lehrer. Wenn du verschiedene Wege beschreitest, machst du einen Fehler.“

Zum Abschluss sprach der Meister zu allen Suchern und neuen Schülern. „Die meisten meiner Schüler sind sehr aufrichtig und ernsthaft bemüht; deshalb fühle ich, dass ich meine Autorität ausüben kann. Wenn ihr unseren Weg nicht hingebungsvoll, seelenvoll und als einzigen gehen wollt, dann wollen wir euch hier nicht haben. Ihr könnt nicht zwei Meistern gleichzeitig dienen. Der, der allen dienen will, dient niemandem. Wenn ihr unserem Weg folgen möchtet, solltet ihr uns eine Chance geben. Wenn ihr nach sechs Monaten, einem Jahr oder zwei das Gefühl habt, dass euch dieser Weg nichts geben kann, solltet ihr zu jemand anderem gehen. Aber solange ihr in meinem Boot bleibt, müsst ihr euch an meine Regeln halten, die für meine Schüler seelenvolle Bedürfnisse sind.“

Dann stand der Meister auf, um das Treffen zu beenden.

Sri Chinmoy, Ein Universum von Heiligen, The Golden Shore Verlagsges.mbH, Nürnberg, 2005
Übersetzungen dieser Seite: Slovak
Diese Seite kann zitiert werden unter Verwendung des Zitierschlüssels gs 4