Frage: Was kommt zuerst? Vollkommener Gehorsam oder bedingungslose Selbsthingabe?

Sri Chinmoy: Gehorsam ist meist im Verstand, während Selbsthingabe das gesamte Wesen umfasst. Bedingungslose Hingabe schließt das gesamte Wesen ein: das strebende Herz, den suchenden Verstand, die dynamische Lebenskraft und den Körper, der die Lethargie weit von sich weist. Wenn der Zeitpunkt der Selbsthingabe kommt, ist es, als fiele man der Länge nach dem Supreme zu Füßen; man wirft sich Gott vollkommen zu Füßen. Dann berührt nicht nur unser Kopf den unendlichen Mitleids-Ozean unseres geliebten höchsten Herrn, sondern unser ganzer Körper.

Doch Gehorsam betrifft hauptsächlich den Verstand. Wenn ich dich bitte, etwas zu tun, kannst du dies entweder mit der Geschwindigkeit einer Schildkröte oder mit der Schnelligkeit eines Rehs ausführen. Doch ganz gleich wie schnell, wie enthusiastisch und wie bereitwillig du gehst, so geht doch nur ein Teil deines Wesens: der Verstand. Der Verstand geht mit der Hoffnung, dass er Gott oder den Meister zufrieden stellen wird. Er sagt sich: „Wenn ich nicht gehe, wird der Meister unzufrieden sein, wird Gott unzufrieden sein.” Sogar wenn du schnell gehst, sei es nun aufgrund deines eigenen Entschlusses oder aufgrund irgendeines Zwanges, wird sich noch immer kein spontanes Gefühl von Süße in deinem ganzen Wesen einstellen. Doch wenn du dich bedingungslos hingibst, geben dir all deine Glied­maßen und jede einzelne deiner 86.000 subtilen Nerven unvorstellbare Freude; einfach alles gibt dir unvorstellbare Freude.

Wir müssen uns im Klaren sein, dass be­ding­ungslose Selbsthingabe nicht mit der Unterwerfung eines Sklaven an seinen Meister vergleichbar ist. Bedingungslose Selbsthingabe ist jene Hingabe, die der Weisheit entspringt, der Erkenntnis, dass es Jemanden gibt, der mehr weiß als wir und der uns zugleich als ganz Sein Eigen beansprucht und der von uns erwartet, dass auch wir Ihn als ganz unser eigen beanspruchen. Der weite Ozean wird immer Anspruch auf den kleinen Tropfen erheben. Wenn der kleine Tropfen auch nur ein bisschen Intelligenz oder Weisheit besitzt, so wird er den Ozean ebenfalls als sein eigen beanspruchen und sagen: „Ich bin zum Ozean geworden.” Genauso werden wir, sobald wir fähig sind, uns bedingungslos hinzugeben, sofort zu einem integralen Bestandteil unseres höchsten Geliebten, unseres Supreme. Zu diesem Zeitpunkt sind wir für nichts ver­ant­wortlich, denn was wir sagen oder tun, kommt nicht von uns; es kommt von unserer eigenen höchsten Wirklichkeit.

Du fragst, was zuerst kommt. Das hängt vom Einzelnen ab. Bedingungslose Selbsthingabe schließt voll­kom­menen Gehorsam definitiv mit ein; wenn du dich bedingungslos hingibst, folgt der voll­kom­mene Gehorsam unweigerlich. Doch wenn du vollkommenen Gehorsam besitzt, wirst du nicht automatisch das Resultat der bedingungslosen Hingabe erhalten, welches Süße ist. Meiner Ansicht nach ist bedingungslose Hingabe wesentlich wichtiger und wertvoller als Gehorsam, selbst dann, wenn Gehorsam auf vollkommenem Glau­ben beruht. Gehorsam kann entweder freiwillig oder unfreiwillig sein, doch bedin­gungs­lose Selbsthingabe ist immer voller Freude. In bedingungsloser Selbsthingabe sagen wir: „Benütze mich wie einen Fußball. Tritt mich so stark, wie es dir beliebt, mit deinem rechten oder linken Fuß, wie immer du willst.” Sobald der Sucher bedingungslose Selbsthingabe entwickelt hat, wird er zu einem vollkommenen Instrument des Höchsten.

Sri Chinmoy, Sri Chinmoy antwortet , Teil 1, The Golden Shore Verlagsges.mbH, Nürnberg, 2004
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