Frage: Ein Thema, das Sie sehr oft in Ihren Schriften ansprechen, ist Selbsttranszendenz. Wir haben uns mit Ashrita über seinen Weltrekord im Ziegeltragen unterhalten, der sicherlich ein Beispiel der Selbsttrans­zendenz war. Er erzählte uns, dass er nahe am Zusammenbruch war, nachdem er einen neun Pfund schweren Ziegelstein vierzig Meilen weit auf einer Bahn getragen hatte. Dann kamen Sie, und Ihre Gegenwart und einige Dinge, die Sie ihm sagten, versetzten ihn in einen Zustand der Selbsttranszendenz. Was machen Sie da genau? Wie können Sie auf eine Person einwirken, oder wie kann jemand auf sich selbst einwirken, um das zu transzendieren, was er für seine normalen Grenzen hält?

Sri Chinmoy: Selbsttranszendenz ist nicht nur möglich, sondern sie ist auch praktisch anwendbar und durchführbar, vorausgesetzt, wir empfinden in den Tiefen unseres Herzens das aufrichtige Gefühl, dass nicht wir die Handelnden sind, sondern Jemand anderes. Wer ist dieser Andere? Es ist uns eigenes höchstes Wesen, es ist unser Absoluter Höchster Herr.

In unserer Bhagavad Gita, dem ‘Himmlischen Gesang’, lehrte uns Lord Sri Krishna: Nimitta matram bhava savyasachin – „Werde zu einem reinen Instrument“. In meinem Fall empfehle ich meinen Schülern, dass sie niemals, niemals denken sollen, dass sie die Handelnden sind, denn nur Gott ist der Handelnde. Sie sollten Ihm nur ständig ihre Dankbarkeit darbringen, weil Er in ihnen und durch sie wirkt, um etwas Besonderes für Ihn zu vollbringen.
Ashrita hat über die Jahre viele Höchstleistungen vollbracht, weit über meine Vorstellungskraft hinaus. Ihm gelang es, weil er einen unerschütterlichen Glauben an mich hat, und weil ich einen unerschütterlichen Glauben an den Höchsten habe, der der Guru meiner Schüler, mein eigener Guru und der Guru eines jeden ist. Ich sage immer zu meinen Schülern: Ich bin nicht euer Guru. Es gibt auf der Erde und im Himmel nur einen Guru, und das ist der Absolute Höchste Herr. Er ist das All unserer Ewigkeit.

Ich sage all meinen Schülern, dass ich wie der ältere Bruder in unserer spirituellen Familie bin. Als älterer Bruder weiß ich, wo sich unser Vater aufhält. Meine Aufgabe besteht darin, meine jüngeren Brüder und Schwestern zu unserem Vater zu bringen. Dann habe ich meine Aufgabe erfüllt und die Jüngeren können direkt mit dem Vater sprechen. Aufgrund meines inneren Er­wa­chens und meiner Verwirklichung kann ich sagen, dass ich viele Jahre, sogar Jahrhunderte lang gebetet habe. Deswegen weiß ich ein wenig mehr über Strebsamkeit und Verwirklichung als Ashrita und ich versuche, in ihm Glauben zu erwecken, damit er mit mir kommt und mir zum Vater folgt. Ich versuche, sein Vertrauen in sich selbst zu stärken, damit er fühlt und erkennt, dass er ein höchst auserwähltes Instrument Gottes ist.

Ich bete zu Gott, damit Er vor allem eine Eigenschaft in jedem Einzelnen hervorbringt: den Glauben, ein besonderes Mitglied von Gottes Familie mit einer besonderen Lebensaufgabe zu sein. Durch jeden Einzelnen versucht Gott, etwas Einzigartiges zu manifestieren. Gott will nicht, dass jeder Mensch auf dieser Welt ein und dieselbe Aufgabe ausführt. Nein, Er will Vielfalt in der Einheit. Ein Baum hat nur einen Stamm, hat jedoch viele Äste, Blüten und Früchte.

Unsere Philosophie ist – wie Sie freundlicherweise bereits erwähnten – die Selbsttranszendenz. Ich bin zufällig ein Sportler. Sagen wir einmal, ich habe ein bestimmtes Niveau erreicht und bin sehr stolz auf mich. Doch sobald ich mich umschaue, werde ich sehen, dass andere mich mit Leichtigkeit übertreffen können. Wenn wir in die Welt des Wettkampfes eintreten und versuchen, die ganze Welt zu besiegen, wird die Enttäuschung nicht lange auf sich warten lassen. In diesem Moment werden wir viel­leicht der Erste sein, doch schon im nächsten Augenblick wird ein anderer auftauchen, der unsere Leistung überbietet. Deswegen gibt es in der Welt des Wettkampfes keinen Frieden, es gibt immer jemanden, der besser ist. Doch wenn wir versuchen, nur uns selbst zu übertreffen und beständig unseren eigenen Standard verbessern, werden wir immer glücklich sein.

Auch im spirituellen Leben versuchen wir uns ständig zu transzendieren und über uns hinaus zu wachsen. Wenn ich heute zwanzig Fehler begehe, werde ich morgen versuchen, nur noch neunzehn Dinge falsch zu machen. Ich werde beständig versuchen, mich zu verbessern, und auf diese Weise erhalte ich ein tiefes Gefühl von Zufriedenheit. Ich wetteifere mit niemand anderem als mit mir selbst. Auf diese Weise kann ich fühlen, dass ich Vollkommenheit erlange. Doch die Vollkommenheit von heute ist nur der Ausgangspunkt für eine höhere Vollkommenheit von morgen.

Sri Chinmoy, Sri Chinmoy antwortet, Teil 2, The Golden Shore Verlagsges.mbH, Nürnberg, 2004
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