Frage: Ich habe erfahren, dass Sie einige Zeit im Sri Auro­bindo Ashram verbrachten. Ich war sehr beeindruckt, dass die meisten Mitglieder des Ashrams, ganz gleich welchen Alters, im Zölibat lebten. Selbst diejenen, die verheiratet sind, praktizieren brahma­charya, Enthaltsamkeit. Mir ist auch aufgefallen, dass viele Ihrer Schüler keine Kinder haben. Ich frage mich, wie Sie Ihre Schüler zu diesem Thema ‘brahmacharya’ in der Ehe unterweisen oder sie inspirieren bzw. darüber sprechen?

Sri Chinmoy: All das liegt in meiner persönlichen Erfahrung der inneren Welt begründet, die aus meinem Gebet und meiner Meditation gewachsen ist. Jeder spirituelle Meister ist völlig abhängig vom göttlichen Befehl, dem ‘adesh’. Im Alter von zweiunddreißig Jahren wurde mir von meinem Höchsten Herrn befohlen, nach Amerika zu gehen, um den Suchenden dort meine Dienste anzubieten. Die meisten meiner Schüler sind unverheiratet. Ich stelle ihnen die Frage, was sie wirklich vom Leben wollen: Freude oder Genuss. Zwischen diesen bei­den Dingen besteht ein großer Unterschied. Dem Leben des Genusses folgt stets die Enttäuschung und Frustration, und auf Enttäuschung folgt Zerstörung. Wenn wir einmal völlig frustriert sind, steht unsere Zerstörung unmittelbar bevor. Doch wenn wir auch nur einen Funken Seligkeit von unserem Gebet und unserer Meditation erhalten, schwimmt unser inneres Wesen augenblicklich in einem Meer von Licht und Wonne. Wenn wir während unserer Meditation nur einen Funken göttlichen Lichts erhalten, schweben wir den ganzen Tag im Himmel der Unendlichkeit und schwimmen im Meer der Glückseligkeit.

Ich sage meinen Schülern: „Ich habe nicht deine Füße berührt und dich gebeten, dich unserem Pfad anzuschließen. Nein, du hast etwas in mir gesehen und gefühlt, und ich habe etwas in dir gesehen und gefühlt. Es war nicht einseitig - in keiner Weise! Ich habe in dir einen echten inneren Hunger gespürt und du hast in mir einen wahren älteren Bruder gesehen, der dir tiefste Liebe und tiefstes Mitgefühl zeigen wird. Früher hast du in den Vergnügungen der Unwissenheit geschwelgt, aber jetzt strebst du und sehnst dich bewusst nach dem Licht. Und so ist das Einzige, das dich wahrhaft befriedigen und erfüllen wird, die innere Freude, die du von deinem Gebet und von deiner Meditation erhältst.

Vor fünfzehn oder zwanzig Jahren, bevor sie unseren Weg annahmen, konsumierten einige meiner Schüler Drogen. Als sie mich dann sahen, wie ich Vorträge hielt, Fragen beantwortete oder mit ihnen meditierte, gaben sie ihr Drogenleben auf, denn sie erkannten, dass ihnen diese Nahrung nicht mehr bekommt. Sie wollten etwas anderes. Ein Kind, das ein oder zwei Jahre alt ist, wird Schmutz und Staub als etwas zum Essen betrachten. Was immer es um sich herum erblickt, wird es in den Mund stecken. Seine Mutter wird es ausschimpfen, und sie wird dem Kind beibringen, nur richtige Nahrung zu essen. Wenn das Kind dann älter wird, wird es nur noch richtige Nahrung essen wollen. Auf dieselbe Weise hören wir im spirituellen Leben auf, den Schmutz und Staub des Ver­gnügungslebens zu essen, und statt dessen trinken wir nun den inneren Nektar der göttlichen Freude.

In jedem Augenblick erhalten wir die Gelegenheit, höher hinaufzusteigen oder tiefer zu fallen, je nachdem, was wir sehen, was wir tun und in was wir eintreten. Ich gehe oft in indische Restaurants und esse gerne scharfe Speisen; das Menschliche in mir genießt diese Speisen. Doch das heutige Mahl stellte das Göttliche in mir immens zufrieden, weil es so sattvisch war. Vom heutigen Mahl erhielt ich wahre, göttliche Nahrung, nicht nur weil alles so rein war, sondern auch, weil ich mich hier mit Gurudeva und seinen engsten Anhängern aufhalte. In anderen indischen Restaurants hört man keine vedischen Gesänge; man bekommt Rock´n Roll oder andere un­gött­­liche Musik zu hören. Ich versuche zu essen, doch die niederen vitalen Kräfte und schlechten Schwingungen versuchen, mich herabzuziehen, und so fühle ich mich ständig, als würde ich auf heißen Kohlen sitzen. Doch hier muss ich mir keine Sorgen darum machen, denn wer sollte hier wen herabziehen? Im Gegenteil, hier helfen wir uns nur gegenseitig, um höher hinauf zu steigen.

Herausgeber: Wollen Sie damit auf subtile Weise ausdrücken, dass Sie brahmacharya für die Spiritualität als wichtig betrachten?

Sri Chinmoy: Ja, absolut. Doch von manchen Schülern kann ich es nicht sofort erwarten. Wenn jemand die Universität besucht, kann ich von ihm nicht erwarten, dass er sofort einen Doktortitel erhält. Außerdem leben wir im 20. Jahrhundert und ich versuche mit meinen Schülern praktisch zu sein. Denjenigen, die verheiratet sind, sage ich: „Versucht nicht von heute auf morgen, enthaltsam zu sein. Verringert euren körperlichen, irdischen Hunger langsam, aber stetig.“

Es gibt aber auch Schüler, die bereit sind, in ihrem spirituellen Leben sehr schnell zu laufen. Viel­leicht wurden sie in eine spirituelle Familie hineingeboren, und ihre Eltern und ihre älteren Geschwister praktizieren bereits die Spiritualität, und so haben sie den Erfahrungshinter­grund. Menschen, die bereits erwacht sind, sind mehr als bereit, der strengen Disziplin eines enthaltsamen Lebens zu folgen. Ihnen sage ich: „Es liegt an dir, wie schnell du auf der Straße der Ewigkeit laufen willst. Wenn du so schnell wie möglich vorankommen willst, wenn du nach dem Licht dürstest, dann musst du die Dinge tun, die absolut unerlässlich sind, um deine Geschwindigkeit zu erhöhen.“

Redakteur: Welche Dinge sind das?

Sri Chinmoy: Unsere Philosophie lautet:

Asato ma sad gamaya
tamaso ma jyotir gamaya
mrityor ma amritam gamaya

Führe mich vom Unwirklichen zum Wirklichen.
Führe mich von der Dunkelheit zum Licht.
Führe mich vom Tod zur Unsterblichkeit.

Ich für mich selbst weiß, was mich bindet, Sie wissen, was Sie bindet, er weiß, was ihn bindet. Wir können es Versuchung oder Unwissenheit nennen, oder noch einen weiteren Namen dafür finden, doch es offenbart sich auf die unterschiedlichste Weise. Was den einen Menschen davon abhält Fortschritt zu machen, ist nicht dasselbe wie das, was einen anderen am Fortschritt hindert. Der eine leidet an Eifersucht, der andere an Unsicherheit oder Unreinheit. Doch was auch immer unser Problem sein mag, wir können immer eine Lösung finden, indem wir Gott, unserem inneren Führer, dieses Problem übergeben.

Nehmen wir an, jemand leidet an Unreinheit. Ich rate dieser Person: „Betrachte dich selbst als ein Kind von sechs oder sieben Jahren. Du warst draußen und hast im Schmutz gespielt, und nun bist du über und über mit Schmutzflecken bedeckt. Doch du weißt, dass es jemanden gibt, der dich sofort wieder sauber machen kann, und das ist deine Mutter. Deshalb läufst du zu deiner Mutter, und sie wäscht dich.“ Wenn ein Kind zu seiner Mutter läuft, schämt es sich nicht und ist auch nicht verlegen. Es geht einfach zu ihr hin und ist augenblicklich wieder sauber.

Auf die gleiche Weise gibt es auch für uns immer Jemanden, zu dem wir gehen können, um gereinigt zu werden – ganz gleich wie viele unreine oder ungött­liche Dinge wir unternommen haben; und dieser Jemand ist Gott, unser geliebter Supreme. Er ist stets bereit, uns zu helfen, denn das ist Seine heilige Pflicht. Gott kann nie zufrieden sein, wenn Sein Kind, Sein auserwähltes Kind, mit Schmutz bedeckt ist. Wenn ich also etwas falsch gemacht habe, so werde ich zur richtigen Person gehen, um gerettet zu werden, und Gott wird mich augenblicklich reinigen. Wenn eine Mutter bemerkt, dass ihr Sohn etwas falsch gemacht hat, bringt sie es sofort heimlich wieder in Ordnung, denn sie will, dass die Nachbarn über ihren Sohn sagen: „O ja, er ist so ein netter Junge.“

Wir versuchen uns vor Gott zu verstecken, doch wie können wir uns vor jemandem verstecken, der allgegenwärtig ist? Gott ist voller Zuneigung und Mitleid, doch Er versucht es zu verbergen. So spielt Er Sein Kosmisches Spiel. Doch wir müssen uns bewusst sein, dass Gott in jedem Moment versucht, uns zu vervollkommnen. Das ist die Aufgabe, die Er Sich gestellt hat. Wir können uns niemals, niemals Gottes Mitgefühl würdig erweisen, doch Er hat die Herausforderung angenommen. Nicht wir haben Gott herausgefordert; Gott hat Sich selbst her­aus­ge­fordert. Unsere Aufgabe besteht einzig und allein darin, völliges Vertrauen in Ihn zu haben sowie Dankbarkeit und Selbsthingabe.

Wir alle beten – Sie und ich, wir alle hier. Kann es ein besseres, höheres, erleuchtenderes oder erfül­len­deres Gebet geben als: „Dein Wille geschehe“? Dieses Gebet berührt die höchsten Höhen. Frieden beginnt, wenn Erwartung endet. Ich tue Ihnen einen Gefallen und sofort erwarte ich eine Gegenleistung. Und wenn Sie sich nicht erkenntlich zeigen, beginne ich, Sie dafür zu kritisieren. Doch wenn wir zu Gott beten, muss unser Gebet bedingungslos sein. Es ist dieses bedingungslose Gefühl, das uns retten wird. Ich sage meinen Schülern, dass es ihre heilige Pflicht ist, früh am Morgen zu beten und zu meditieren, doch alles weitere müssen sie Gott überlassen, denn Er weiß am besten, was wir für unseren schnellsten Fortschritt brauchen.

Nehmen wir an, ein Kind findet eine fünfzig Cent Münze auf der Straße, und es läuft zum Vater, um ihm diese fünfzig Cent zu schenken. Sein ganzer Besitz ist diese eine Münze, doch voller Glück gibt es sie seinem Vater. Was wird nun der Vater tun? Der Vater weiß, dass das Kind diese fünfzig Cent hätte ausgeben können oder die Münze wie ein Geizhals verstecken. Doch es gab die fünfzig Cent voller Freude seinem Vater, weil es soviel Liebe und Vertrauen in ihn hat. Der Vater ist so erfreut darüber, dass er dem Kind zehn Euro geben wird. Weil das Kind zur richtigen Person ging, erhielt es viel mehr, als es sonst bekommen hätte.

Wenn wir unsere Gebete seelenvoll, liebend und bedingungslos anerbieten, erhalten wir unendlich viel mehr, als wir uns je erträumen können. Doch unser Gebet muss bedingungslos sein. Wir werden das Richtige tun, aber ohne Erwartungen. Ich frage meine Schüler: „Warum erwartest du etwas? Bist du ein Bettler? Wenn du weißt, dass dein Vater ganz auf deiner Seite steht, und wenn du deinen Vater als dein eigen, ganz dein eigen betrachtest, wie kann es dann sein, dass du nicht darauf vertrauen kannst, dass Er dir alles geben wird, was auch immer du brauchst? Ein Baby kann nur schreien. Wenn es hungrig ist, schreit es und die Mutter eilt herbei, ganz gleich, wo sie sich gerade aufhält. Das Kind benutzt nicht das Wort ‘Milch’; es fragt nicht nach etwas Bestimmten, seine einzige Aufgabe besteht darin zu schreien. Dann kommt seine Mutter mit der Milchflasche herbei, denn sie weiß, was das Kind braucht.

Auf die gleiche Weise sollten wir nur nach Gott schreien, damit Er aus uns ein gutes Instrument macht. In unserem Gebet werden wir sagen: „Ich setze mich Dir zu Füßen. Verwandle mich in ein gutes Instrument.“ Um aus mir ein gutes Instrument zu machen, lässt mich Gott einfach, aufrichtig, rein und hingebungsvoll werden. Wie könnte ich ohne diese Eigenschaften ein gutes Instrument sein? Doch ich muss in meinem Gebet diese guten Eigenschaften nicht ausdrücklich erwähnen – ganz und gar nicht. Ich werde nur danach schreien, Sein gutes Instrument zu werden, und Gott wird mir die Dinge, die dazu nötig sind, definitiv geben.

Wir müssen aber auch wissen, dass es so etwas wie die Stunde Gottes gibt. Wir säen einen Samen und erwarten sofort einen Baum, aber das braucht Zeit. Wir müssen den Samen aufgehen lassen. Zuerst muss er zu einer kleinen Pflanze heranwachsen, bevor er ein riesiger Banyan-Baum wird. Spirituelle Sucher machen oft den Fehler, dass sie sofort ein Ergebnis sehen wollen. Doch uns muss klar sein, dass alles Zeit braucht. Es ist mit dem Anzünden einer Flamme auf dem Gasherd vergleichbar. Man kann lange am entsprechenden Knopf herumdrehen, aber erst wenn man einen bestimmten Punkt erreicht, entzündet sich die Flamme. Deswegen sage ich meinen Schülern, dass sie auf Gottes auserwählte Stunde warten müssen. Diese Stunde schlägt erst dann, wenn Gott uns die Fähigkeit schenkt. Ich werde beten, doch Er wird Sich erst zu Seiner auserwählten Stunde in mir und durch mich erfüllen.

Wir alle brauchen und wollen Freiheit. Doch hierbei handelt es sich nicht um die Freiheit eines Julius Cäsars oder eines Napoleon, die die Welt erobern wollten, sondern um die Freiheit eines Jesus Christus, eines Lord Krishna oder eines Lord Buddha, die die Welt nur lieben und ihr dienen wollten. Es ist die Einsseins-Freiheit, die wir erlangen wollen. Wir müssen fühlen, dass die ganze Welt zu uns gehört, dass wir ein Teil dieser Welt sind und dass es unsere Bestimmung ist, der Welt zu dienen. Wenn wir das fühlen und wenn wir seelenvoll und bedingungslos zu Gott beten, werden wir zweifellos zu einem guten und vollkommenen Instrument Gottes heranwachsen.

Sri Chinmoy, Sri Chinmoy antwortet, Teil 2, The Golden Shore Verlagsges.mbH, Nürnberg, 2004
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