Frage: Meine Frau ist der Auffassung, alle religiösen Glaubensvorstellungen seien Wahnvorstellungen, die auf existentieller Angst beruhen. Die meisten Menschen finden den Gedanken unerträglich, dass das Leben keine weitere Bedeutung hat als die biologische und rationale Tatsache des Lebens selbst. Ihrer Meinung nach sollte das aber jedem Menschen ausreichen. Auch die Tatsache des Todes sollte auf gleiche Weise als biologische Wirklichkeit akzeptiert werden. Das ist eine alte Theorie, die wahrscheinlich auf intellektueller Ebene weder bewiesen noch widerlegt werden kann.

Sri Chinmoy: Die letzte Wahrheit bezüglich Leben und Tod kann nie befriedigend erklärt oder ausgedrückt werden. Diese Wahrheit kann nur vom aufstrebenden Menschen gefühlt und von der verwirklichten Seele erkannt werden

Ich stimme völlig mit Ihnen überein, dass Ihre Ansicht, genau wie die Ihrer Frau, nicht intellektuell bewiesen werden kann. Es kann jedoch auch nicht bewiesen werden, dass die Ansicht Ihrer Frau über Leben und Tod der Wahrheit mehr entspricht als Ihre eigene Ansicht.

Das menschliche Gedächtnis hat weder das erste noch das letzte Wort in Bezug auf die Wirklichkeit. Wenn ich mich im Alter von achtzig Jahren nicht mehr an alle Begebenheiten aus meinen ersten vier Lebensjahren erinnern kann, heißt das noch lange nicht, dass ich damals nicht existierte. So wie zwischen dem vierten und dem achtzigsten Lebensjahr eine Reihe von Jahren verstreichen, so gibt es eine Reihe von Leben, die die Gegenwart mit der fernen Vergangenheit verbinden und in die Zukunft hineinwirken.

Dann gibt es auch etwas jenseits des Fassungsvermögens unseres begrenzten Körperbewusstseins. Sogar während ein Mensch in die gewöhnlichsten physischen Tätigkeiten vertieft ist, kann er bisweilen in sich selbst erstaunliche Wahrheiten fühlen. Diese sind in der Regel ungewohnt und zugleich sehr erhebend. Diese Wahrheiten kommen von einer höheren oder tieferen Welt, von einer anderen Bewusstseinsebene, und klopfen an die Türe seines Verstandes. So besitzt er Kräfte und wird von Kräften in Besitz genommen, die jenseits seines Alltagsbewusstseins liegen.

Wenn wir uns mit diesen höheren Kräften - mit der universalen Harmonie - in Einklang bringen, dann hört das Leben auf, unerträglich zu sein. Ich stimme völlig mit Ihrer Frau überein, dass für einen Menschen, der in seinem Leben keinen Sinn und kein Ziel sieht, das Leben durch diese Haltung unerträglich wird. Was jedoch den religiösen Glauben anbelangt, möchte ich hier eine Analogie vorlegen:

Zur Zeit wohne ich in einem Appartement in Brooklyn. Wenn mich nun ein Kind fragt: „Gibt es einen Ort, der Köln heißt?“, dann werde ich ihm antworten: „Sicher, mein Kind. Köln ist eine Stadt in Westdeutschland.“ Nehmen wir an, das Kind sagt nun: „Das musst du mir beweisen!“ Wie kann ich es ihm beweisen, außer dass ich ihm Landkarten und Fotos zeige? Ich kann ihm nur sagen, dass ich Köln persönlich besucht habe, wie Millionen von anderen Menschen auch. Sein Zweifel kann die Existenz der Stadt nicht negieren.

Ebenso haben jene, die Gott verwirklicht haben, jedes Recht, uns zu sagen, dass es einen Gott gibt. Nur weil wir Ihn nicht selbst verwirklicht haben, können wir die Existenz Gottes nicht leugnen. So wie das Kind Köln mit seinen eigenen Augen sehen will, so können wir uns von der Wirklichkeit Gottes nur überzeugen, indem wir Ihn sehen. Diese Suche nach Gott gibt einem sonst zwecklosen Leben eine beispiellose Bedeutung und Richtung.

Sri Chinmoy, Yoga und das spirituelle Leben, The Golden Shore Verlagsges. mbH, Nürnberg, 2007
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