Das opfern eines Auges[fn:: POK 38. Sri Chinmoy erzählte diese Geschichte am 15. April 2007

am York College in Jamaica, New York.]

Vor langer, langer Zeit wurden die Götter ziemlich oft von den Asuras besiegt. Die Asuras waren die Dämonen und die Suras waren die Devas – die kleinen Götter und die kosmischen Götter. Der Guru der Asuras, Sukracharya, beherrschte die Kunst, Menschen wieder zum Leben zu erwecken, wenn sie starben.

Das bedeutete, dass die Asuras, wenn sie getötet wurden, wieder zum Leben erweckt wurden. Die Devas, die kosmischen Götter, beherrschten diese Kunst damals nicht. Doch schluss-endlich erhielten sie auf sehr clevere Weise das Wissen und wurden auch unsterblich.

Hier beginnt nun die Geschichte. Einst versuchten die Asuras, bzw. die Dämonen, unbarmherzig die Götter zu besiegen. Die Götter und selbst die kosmischen Götter wurden gnadenlos im Himmel gequält. Die Götter waren den Dämonen nicht gewachsen.

Die Götter beteten unablässig zu Lord Vishnu um Rettung. Lord Vishnu antwortete: „Es tut mir leid. Ich besitze nicht die Macht, die Dämonen zu besiegen, hier seid ihr zur falschen Person gekommen. Aber ich bin bereit, zu Lord Shiva zu gehen. Ihr könnt mich begleiten. Lasst uns alle gehen.“

Dann erwiderten die Götter: „Oh, nein. Geh du alleine. Ihr beide seid so gute Freunde.”
So machte sich Vishnu auf, um zu Shiva zu gehen und um seine Hilfe zu bitten. Diese kosmischen Götter sind so nett zueinander. Bei einer Gelegenheit sagen sie, dass Shiva der höchste Gott ist; das nächste Mal sagen sie, dass Vishnu der höchste ist; und ein anderes Mal werden sie sagen, dass Brahma der höchste ist. Diesmal wollte Vishnu die Überlegenheit von Shiva zeigen. Er wollte beweisen, dass er Shiva nicht gewachsen sei, dass Shiva alle spirituelle Kraft und okkulte Kraft hatte und dass Shivas drittes Auge alles zerstören konnte.

Als Vishnu zu Shiva kam, stellte er fest, dass Shiva in Trance war – in hoher, höherer, höchster Trance. Vishnu wollte Shivas Trance nicht stören und wartete daher. Er wartete und wartete Hunderte von Jahren lang. Und so ging es weiter.

Shiva war noch immer nicht zufrieden. Dann entschied sich Vishnu, Shiva jeden Tag mit tausend Lotusblumen anzubeten – mit schönen, voll erblühten blauen Lotusblumen. Dies tat er jeden Tag, um Lord Shiva zufriedenzustellen. Eintausend Jahre lang betete Vishnu stundenlang zu Shiva. Während er betete, legte er eintausend Lotusblumen vor sich. Er hob eine nach der anderen hoch und widmete sie Shiva. Obwohl Shiva nicht antwortete, fuhr Vishnu fort, kontinuierlich zu beten, zu beten und weiter zu beten.

Eines Tages wollte Shiva Vishnu einen Streich spielen. Bevor Vishnu anfing zu beten, sammelte er stets die schönen blauen Lotusblumen. Er legte sie an einen bestimmten heiligen Ort, setzte sich dann vor die Blumen und begann, Shiva anzubeten. Doch ach, bevor sich Vishnu zur Verehrung Shivas hinsetzte, erschien dieser heimlich in subtiler Form und stahl eine Blume, so dass die Zahl der Blumen nicht mehr eintausend war – sondern nur noch 999. Vishnu bemerkte es nicht. Vishnu sah nur die vielen, vielen Blumen. Er fing an, sie Shiva eine nach der anderen anzubieten. Jedes Mal, wenn er einen Lotus anbot, lobte er Shiva und sagte, wie großartig, wie gut und wie gütig Shiva war.

Leider bemerkte Vishnu am Ende seiner Opfergabe, dass es nur 999 Lotusblüten waren. Er war sehr, sehr traurig, weil ein Lotus fehlte. Vishnu begann, überall nach diesem Lotus zu suchen. Schließlich entschied er, dass es sich um einen hoffnungslosen Fall handelte, und zog daher sein linkes Auge heraus. Sein Auge sah auch aus wie ein schöner Lotus. Vishnu legte sein Auge vor sich, und mit diesem Auge betete er Lord Shiva an.

Lord Shiva kam sofort und stand vor Vishnu. Er konnte nicht glauben, dass Vishnu so etwas tun würde. Lord Shiva war so zufrieden mit ihm. Dann sagte Shiva: „Ich gebe dir mein Sudarshan-Chakra, diese runde Wurfscheibe.“

Wir alle wissen, dass dies jetzt Vishnus Chakra ist, aber am Anfang war es Shivas Chakra. Das Sudarshan-Chakra wird sich immer weiter drehen und demjenigen, den es töten will, die Kehle durchtrennen.

Lord Vishnu nahm ergeben das Sudarshan-Chakra von Lord Shiva. Dann gab Lord Vishnu dieses Sudarshan-Chakra den Göttern, um damit gegen die Dämonen zu kämpfen. Auf diese Weise wurden die Dämonen getötet. Anschließend gaben die Götter das Chakra Lord Vishnu zurück. Vishnu sagte: „Jetzt wissen wir, wie wir die ungöttlichen Kräfte töten können.“ Dann fragte er Shiva, ob er das Sudarshan-Chakra zurückhaben wolle.

Shiva erwiderte: „Sobald ich etwas gebe, nehme ich es nicht mehr zurück. Es gehört dir. Du kannst es von jetzt an benutzen, bis in alle Ewigkeit.“

Lord Vishnu benutzte dieses Chakra weiterhin. Als Sri Krishna auf die Erde kam, war er ein Avatar von Lord Vishnu. Er benutzte dieses Chakra und niemand, absolut niemand konnte sich dagegen wehren. So ist Krishna zu dem Chakra gekommen: Shiva hatte es Vishnu gegeben und Vishnu gab es schließlich Sri Krishna.

Diese Art von Opfer konnte Vishnu vollbringen. Er bot Shiva eines seiner eigenen Augen an, und Shiva war sehr, sehr zufrieden mit diesem Opfer.

Es gibt eine ähnliche Geschichte über Gorakshanath, die ihr sicher kennt. Sein Guru, Matsyendranath, wollte, dass er von einer bestimmten Dame ein köstliches Essen mitbringt. Diese Dame hatte am Vortag ein Festessen gegeben, und Matsyendranath wollte die gleiche Art von köstlichem Essen haben, aber an diesem Tag gab es kein Fest.

Um seinen Guru zufriedenzustellen ging Gorakshanath zu dieser besonders reichen Dame. Die reiche Dame erklärte ihm: „Das Fest war gestern. Heute ist alles vorbei. Ich kann kein anderes Festessen zubereiten.“

Gorakshanath bettelte, bettelte und bettelte. Dann begann die Dame ihn zu schimpfen: „Du bist schlimmer als ein Hund! Selbst ein Hund geht nach einiger Zeit, wenn er kein Futter bekommt. Du bist schlimmer als ein Hund!“

Gorakshanath sagte: „Ich bin bereit, schlimmer als ein Hund zu sein. Ich werde dein Haus nicht verlassen, bis du mir das köstlichste Essen für meinen Meister gegeben hast.“

Die Dame sagte: „In Ordnung, beweise mir deine Liebe und Ergebenheit für deinen Guru. Wenn du bereit bist, mir eines deiner Augen zu geben, wenn du bereit bist, es mir anzubieten, werde ich auf den Markt gehen und alle Zutaten kaufen. Dann werde ich ein köstliches Essen zubereiten, das du deinem Guru bringen kannst.“

Sofort nahm Gorakshanath eines seiner Augen heraus und gab es ihr. Die Dame konnte es nicht glauben. Sie ging sofort auf den Markt, kaufte die Zutaten und bereitete wieder eine köstliche Mahlzeit zu.

Als Gorakshanath mit dem Essen zu seinem Guru zurückkehrte, war sein Guru schockiert als er sah, dass sein liebster Schüler nur ein Auge hatte. Er fragte ihn: „Warum hast du das getan?“

Gorakshanath erklärte: „Die Dame war nicht bereit, heute wieder ein köstliches Essen zuzubereiten. Sie wollte eines meiner Augen, und ich gab es gerne.“

Matsyendranath sagte: „In Ordnung, kannst du mir das andere Auge geben?“

Gorakshanath sagte: „Natürlich!“ Dann nahm er auch das zweite Auge heraus und gab es seinem Meister. Der Meister war so erfreut. Er aß das Essen nach Herzenslust, und gab anschließend mit seiner okkulten Kraft seinem liebsten Schüler Gorakshanath beide Augen zurück.

Die Geschichten über Gorakshanath und Vishnu sind sich ähnlich. Shiva prüfte Vishnu um zu sehen, wie viel Liebe und Bewunderung er für Shiva hegte, und Shiva war sehr, sehr zufrieden mit Vishnu. Matsyendranath war auch sehr, sehr zufrieden mit seinem liebsten Schüler.

Wenn wir ein Opfer bringen, haben wir das Gefühl, dass alles vorbei ist. Nein! Gott gibt uns auf Seine ganz besondere Weise viel mehr zurück, und Er erhöht auch unsere innere Kraft, die Kraft unserer Hingabe.

Sri Chinmoy, Die Kraft der Güte und andere Geschichten, The Golden Shore Verlagsges.mbH, Nürnberg, 2020
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